BALINGEN/MELSUNGEN. Die MT Melsungen startet mit einem 25:23 (11:12)-Auswärtssieg beim HBW Balingen-Weilstetten in die Saison 2020/21 der LIQUI MOLY Handball-Bundesliga.
In der letzten Saison hatten die Nordhessen an gleicher Stelle bekanntlich den unrühmlichen Auftritt mit einer 13-Tore-Pleite. „Wir haben gelernt“, nahm Finn Lemke in der letzten Auszeit, 37 Sekunden vor dem Abpfiff, den positiven Ausgang der laufenden Partie vorweg. Der Kapitän sollte nicht zuletzt deshalb Recht behalten, weil Julius Kühn mit dem letzten Wurf alles klarmachte.
Die MT kam sehr gut ins Spiel. Nach dem ersten Treffer im ersten Angriff durch Kai Häfner, zeigte Silvio Heinevetter beim Gegenangriff des HBW Balingen-Weilstetten gleich eine Glanztat, als er den frei vor ihm auftauchenden Tobias Heinzelmann entzauberte. Beide Mannschaften agierten mit einer 6:0-Abwehrformation. Bei den Gästen bildeten Arnar Arnarsson und Finn Lemke, der jeweils für Kai Häfner in die Defensive kam, den Mittelblock. Und das machten die beiden recht gut, sorgten für die nötige Stabilität. Überhaupt war die Melsunger Hintermannschaft in dieser Anfangsphase gut auf den Beinen und ließ die Offensive der “Gallier von der Alb” kaum zu Entfaltung kommen. Musste dennoch der ein oder andere Ball durchgelassen werden, war Silvio Heinevetter zur Stelle. Ob gegen den wiederum freistehenden Vladan Lipovina oder Fabian Wiederstein vom Kreis.
Auch vorne lief es für die Gäste fast wie am Schnürchen, in fünf Angriffen waren sie vier Mal erfolgreich, denn nach Häfner trafen auch Julius Kühn und zwei Mal Tobias Reichmann, davon ein Strafwurf. Es dauerte bis zur siebten Spielminute, ehe Linksaußen Tim Nothdurft den Knoten der Hausherren mit seinem Tor zum 1:4 zum Platzen brachte.
Die MT blieb spielbestimmend. Vor allem, weil hinten Heinevetter weiterhin gut parierte und vorne mit Domagoj Pavlovic ein weiterer Vollstrecker auf den Plan trat. Aufgrund der Zwischenstände 2:5 (9. Min.), 3:6, und 3:7 (11.) durften sich die favorisierten Nordhessen zu Recht auf der sicheren Seite wähnen.
Aber diese Sicherheit erwies sich als trügerisch. Denn binnen 90 Sekunden kam der HBW bedrohlich nahe. Erst traf Linksaußen Nothdurft per Kempa-Trick zum 4:7, dann tankte sich
kurz darauf Saueressig zum 5:7 durch. Danach wurde Reichmann völlig zu Unrecht für zwei Minuten auf die Bank geschickt. Die Schiedsrichter hatten offenbar nicht gesehen, dass er von einem gegnerischen Spieler am Trikot festgehalten wurde und den angreifenden Balinger Linksaußen gar nicht mehr erwischt hatte. Dennoch gab es zu dieser Zeitstrafe auch noch einen Strafwurf, den Gretarsson zum 6:7-Anschluss nutzte. Spätestens jetzt gingen bei den Nordhessen die Alarmglocken an.
Das Angriffsspiel war plötzlich kein Selbstläufer mehr. Die Gastgeber-Abwehr hatte sich zum einen besser auf den Gegner eingestellt, zum anderen sorgte der Torhüterwechsel – für den glücklosen Ruminsky kam Jensen – für Auftrieb. Zu allem Überfluss aus Melsunger Sicht ließ nun auch das bis dahin gut funktionierende Rückzugsverhalten etwas zu wünschen übrig.
10 Minuten vor dem Halbzeitpfiff, beim Stand von 8:9, nahm Gudmundur Gudmundsson ein Timeout. “Wir müssen uns mehr Zeit im Angriff nehmen!”, fingen die SKY-Mikrofone die Vorgabe des MT-Trainers an seine Schützlinge ein. Aber die Gastgeber ließen sich nicht abschütteln. Im Gegenteil: Fünf Minuten später gelang ihnen mit dem 11:11 zum ersten Mal in diesem Spiel der Ausgleich.
Entscheidend dafür war, dass sie kurz zuvor eine Melsunger Unterzahl (Reichmann war draußen) perfekt ausnutzten und Zobel und Zintel jeweils ihre Chance verwerteten und dazwischen Jensen Kai Häfner einen Ball abkaufte. Balingen war im Aufwind und Jens Bürkle puschte sein Team noch weiter in der Auszeit an: “Die MT macht langsam immer mehr Fehler”, erkannte der HBW-Coach die Schwächephase der Nordhessen.
In den letzten Minuten des ersten Durchgangs warteten hüben und drüben die beiden Keeper Jensen und Heinevetter jeweils mit zwei weiteren Paraden auf, während die abgefeuerten Balle von Saueressig, Pavlovic und Kastening ihr Ziel nicht fanden. Nur Reichmann blieb in der Erfolgsspur und stellte mit einem verwandelten Strafwurf den 11:12-Pausenstand her.
In die zweite Spielhälfte schickte Gudmundur Gudmundsson die gleiche Aufstellung wie zu Beginn auf die Platte. Beide Kontrahenten lieferten sich weiterhin ein Duell auf Augenhöhe – Beweis war der Balinger Ausgleich zum 13:13 (35.). Kurz zuvor hatte Kai Häfner an seiner früheren Wirkungsstätte ein Zeitstrafe kassiert. Ihn vertrat solange Stefan Salger. Und der lange Schlaks lieferte einen nahezu perfekten Kurzeinsatz. Mit zwei Toren in zwei Versuchen sorgte er für die 13:15-Führung (36.) seiner MT, hatte dann aber in der Abwehr eine unglückliche Szene und wurde überaus hart mit einer Zeitstrafe belegt.
Die knappe Führung reichte der MT allenfalls zu einem kurzen Durchschnaufen. Denn die Gallier blieben hartnäckig. Und belohnten sich selbst in der 44. Minute, als sie beim 18:17 erstmalig in Führung gehen konnten. Vor allem Linkshänder Vladan Lipovina kam immer stärker auf und traf aus beinahe allen Lagen. So hatte hauptsächlich er gute Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das Spiel beim 21:19 vollends zu Gunsten seiner Mannschaft hätte kippen können. Die MT sah sich plötzlich in der Verfolgerrolle. Jetzt war Nervenstärke gefragt.
Die bewiesen einmal mehr Tobias Reichmann von Außen und von der Strafwurflinie, Kai Häfner im Rückraum und der inzwischen am Kreis für Arnarsson hereingekommen Marino Maric. Letzterer übrigens sehr spektakulär mit einem Rückhandtor im Fallen, nach Zuspiel von Kai Häfner. Dann fing Finn Lemke hinten einen Pass ab und schickte Tobias Reichmann auf die Reise – 22:24! Die MT war gut drei Minuten vor dem Ende wieder obenauf. Aber noch keineswegs gesichert. Denn Jona Schoch markierte 74 Sekunden vor Ultimo den 23:24-Anschluss.
Dann geht die MT in ihren vermeintlich letzten Angriff. Die Schiedsrichter zeigen Passivspiel an, Gudmundsson erlöst seine Schützlinge per Timeout. “Wir haben jetzt noch 6 Pässe, das ist lange genug”, beruhigt er die Seinen. Um dann noch einen konkreten Spielzug anzukündigen. Das letzte Wort hat in dieser Auszeit Finn Lemke: “Wir haben gelernt!”, schrie der Kapitän in die Runde.
Und Lemke sollte Recht behalten. Der letzte Angriff entwickelt sich zum Nervenspiel. Erst holt Kühn einen Freiwurf heraus, dann Pavlovic. Jetzt durfte nur noch einmal abgespielt werden. Der Ball geht an Kühn, der steigt hoch täuscht an, prellt beim Landen einmal kurz den Ball auf und erlöste die MT dann mit seinem Tor zum 23:25 – Abpfiff!
Stimmen zum Spiel
Es war uns vorher klar, was uns hier erwartet und dass wir in Balingen nicht brillieren können. Wir wollten einfach nur gewinnen, auch wenn es dazu ein bisschen dreckig zugeht. Wir haben einige Bälle vergeben und haben zum Schluss vielleicht auch etwas Glück, aber es war insgesamt okay. Mit meiner Leistung war ich zufrieden, aber darum geht es nicht. Wir haben zwei gute Torhüter und Simo hat in der Schlussphase zwei wichtige Bälle gehalten.
Silvio Heinevetter
Dass der Sieg verdient war, hätte ich – wenn man das Spiel bis zur 45. Minute betrachtet – definitiv gesagt. Danach haben wir das Handballspielen weitestgehend eingestellt. Dass wir nicht über die 60 Minuten eine konstante Leistung bringen, hat man auch schon in den Vorbereitungsspielen gesehen. Das müssen wir noch in den Griff bekommen. Gut war aber, dass wir uns mit einer aggressiveren Abwehr wieder nach vorn gekämpft haben. Gegen Ende hatten wir etwas Glück. Ob ich bei meinem letzten Wurf einen Schritt zu viel gemacht habe, darüber lässt sich womöglich streiten, ich selber meine, dass dies nicht der Fall war. (pm)
Julius Kühn