Risiko oder Chance für Schwalmstadt?
SCHWALMSTADT. Das Schöne an Schwalmstadt ist das Schlechte an Schwalmstadt. Hier ist vieles alt, vieles historisch und manches schlicht veraltet. Das eine vom anderen zu trennen ist genauso schwer, wie Treysa und Ziegenhain gedanklich zu vereinen. Spannungen sind nervig, gelegentlich aber auch Chancen. Vieles müsste man anpacken, aber es fehlt Geld. Das wiederum kann Kreativität fördern…
Leben in der Vergangenheit oder in der Gegenwart?
Schwalmstadt lebt so ein wenig von seiner Vergangenheit und liebend gerne auch in seiner Vergangenheit. Der Weg in die Zukunft führt in Slalomlinien hindurch zwischen Ruinen, die keiner aufbauen kann, weil das Geld fehlt, Denkmälern aus verschiedenen Epochen, die zusammenhanglos in der Stadt verteilt sind, ohne dass es außerhalb der Stadt jemand wahrnehmen würde, virtuellen Kulturgütern, wie der Konfirmation oder dem Schwälmer Brauchtum, das bislang niemand zusammen mit all den anderen Werten mit einem roten Faden verbindet, Sturzbächen aus Krokodilstränen, verletzter Eitelkeit, dem permanenten Gefühl benachteiligt zu sein und der schier grenzenlosen Angst, Ziegenhain könnte etwas haben, was Treysa nicht hat und umgekehrt Treysa etwas, das Ziegenhain zwar nicht vermisst, aber dort definitiv fehlt.
Am Ende steht immer dieser Minderwertigkeitskomplex im Weg, der dazu zwingt, dass ein Besucher, der nach Ziegenhain kommt, auch nach Treysa gelockt werden muss und umgekehrt natürlich ebenso. Es ist schwer auszuhalten, dass ein Besucher der Festung in Ziegenhain nicht auch die Totenkirche in Treysa besichtigt oder jemand, der sich in Treysa für die Geschichte der Diakonie oder der Eisenbahn interessiert, gleichzeitig in Ziegenhain auf den Spuren der Konfirmation wandelt. Der Nachteil des einen, ist oft die Arroganz des anderen. Aber jedes Problem produziert auch Gelegenheiten und Schwalmstadt schafft es immer wieder ein paar davon zu nutzen…
WWW – Warten auf Wasser und Wirtschaftskraft
Das Schlimme, aber vielleicht auch das Schöne daran ist, dass das Warten auf Hochwasser geographisch – und vielleicht auch emotional – bedingt, zum wesentlichen verbindenden Element zwischen Treysa und Ziegenhain geworden ist. Ironisch könnte man mit Poesie überspitzt sagen, es ist, als würde ein Meer aus Tränen die Sorgenfalten zwischen zwei historischen Städten sanft zudecken. Die Jahre, in denen die „Savanne“ mit dem Damm drumherum geflutet wird und ein riesiges Wasser – temporär stets der größte See im Landkreis – Treysa, Ziegenhain und Ascherode miteinander verbindet, werden dank Klimawandel allerdings immer seltener.
Es ist aber stets herrlich diese Fläche geflutet zu sehen und schmerzlich, dass man zwischen Treysa und Ziegenhain gerade deswegen so wenig (geographisch) Verbindendes schaffen kann. Stattdessen wird der Ring um den den gelegentlich See in der Stadtmitte allmählich geschlossen mit Gewerbegebieten, die zumindest die Hoffnung auf wirtschaftlichen Wohlstand nähren. Schöner wird die Stadt deswegen nicht. Und was passiert im Zuge der Digitalisierung, wenn man eigentlich gar kein Rathaus mehr braucht, mit zwei Rathäusern?
Was tun zwischen europaweit Unvergleichbarem und alltäglichen Sorgen?
In der Altstadt von Treysa werden die Menschen unruhig. Es ist nichts mehr los. In Ziegenhain gibt es Ecken, die einfach nicht schön sind, aber auch nicht genutzt werden können. Entweder weil sie Teil des Denkmals sind, mitten im Naturschutz stehen oder es einfach schwierig ist, dort etwas umzusetzen. Die Festung ist so einmalig, dass es in Europa nichts Vergleichbares gibt. Aber wer außerhalb Schwalmstadts weiß das, wenn es in Schwalmstadt noch nicht einmal einen Wert darstellt? Einzelhandelsflächen entstehen auf der grünen Wiese, Leerstand macht sich breit, der wichtigste Park – zumindest immer dann, wenn jemand dort etwas anderes plant – ist das Naturlehrgebiet, das kaum jemand kennt.
Schwalmstadt von außen betrachtet
Schwalmstadt ist wunderschön, wenn man sich die Mühe macht hinter Häuser zu schauen, in Ecken zu blinzeln, freie Flächen zu sehen, die danach rufen, genutzt oder gestaltet zu werden. Auch das Rückhaltebecken ist selbst dann schön, wenn es nicht geflutet ist. Wo sonst hat die Natur so viel Macht, sich frei zu entfalten, wie hier und sich nach jedem Hochwasser wieder neu zu verändern?
Wenn man naiv, als Außenstehender, Schwalmstadt – ohne geschichtliche Wahrheiten und geschichtsgeprägte Befindlichkeiten – als eine Gesamtheit betrachtet, dann ist Schwalmstadts Stadtmitte ein ziemlich großer Naturpark im besten Sinne des Wortes. Das ist wiederum einmalig, vielleicht – genauso wie die Festung – in ganz Europa.
Und plötzlich eröffnet sich eine Gelegenheit, die zunächst auf Erstaunen, teils auf Entsetzen, gelegentlich – auch ohne zu wissen, um was es tatsächlich geht – auf Widerstand und seit gestern vielleicht auch auf großes Interesse stößt. Landesgartenschau heißt das Zauberwort!
Hartnäckigkeit der Freien Wähler
Das Planungsbüro kienleplan hat von der Stadt den Auftrag bekommen, eine Machbarkeitsstudie für die Bewerbung als Standort einer Landesgartenschau Schwalmstadt zu erstellen. Das Team um Christiane und Urs Müller-Messner hat sich aus dem schwäbischen Leinfelden-Echterdingen auf den Weg gemacht und Schwalmstadt eben mit diesem Blick des Außenstehenden betrachtet. Welches Entwicklungspotential Menschen sehen, denen hier rein gar nichts an Traditionen im Weg steht, konnten die Bürger Schwalmstadts gestern an vier Stationen wahrnehmen, betrachten diskutieren.
Es ist der Hartnäckigkeit der „Freie Wähler Schwalmstadt“ (FW) zu verdanken, dass sich der Gedanke einer Landesgartenschau seinen Weg durch Stadtverordnetenversammlung, Magistrat und letztlich zu den Bürgern gebahnt hat. Bis 2027 hat der Gedanke noch einen langen Marsch vor sich.
Das Schöne an Schwalmstadt…
Wie gesagt, das Schöne an Schwalmstadt, ist das Schlechte an Schwalmstadt. Es gibt einen Bürgermeister ohne Partei – also ohne Macht – und sechs Parteien ohne Mehrheit. Selbst zwei gemeinsam haben es oft schwer. Niemand in dieser Stadt kann sich sicher sein, dass seine Ideen zum Zuge kommen. Wenn ein Gedanke erst Erstaunen, dann Ablehnung und letztlich zumindest Zustimmung zum genaueren Betrachten erfährt, dann ist so etwas vielleicht nur in dieser Konstellation möglich und kann genau deshalb ein gemeinsames und verbindendes Projekt werden, weil es niemanden gibt, der es allein durchsetzen kann, sondern tatsächlich (nur) alle miteinander hier etwas bewegen können.
Es gibt Flächen, zum Beispiel zwischen Schwalm und Schwalmstadion, zwischen Haaße-Hügel und Hacienda, am kleinen Wallgraben, zwischen Wallgraben und Damm, rund um das Rückhaltebecken, hinter dem Bahndamm der Kanonenbahn und an vielen weiteren Plätzen, die jede Menge Chancen bieten. Es wäre doch schön, endlich den Bahnhof an das Radwegenetz einzubinden und die Dammwege entsprechend für den Freizeitsport und -spaß nutzbar zu machen. Der Alleeplatz in Ziegenhain ruft nach Veränderung. Von der Nutzung der alten Drehscheibe als Zeugnis Treysaer Eisenbahngeschichte bis zur Gestaltung des Stadtraums Ziegenhain haben die Fachplaner ein Bündel aus unzähligen Möglichkeiten und ungeahnt vielen Orten entwickelt, die aufzuzählen – in einer Phase der Ideensammlung – tatsächlich schwierig wäre.
Historischer Ort: Weltruhm oder „Allerweltsstadt?“
Schwalmstadt möchte viel. Den Wallgraben und die Festung so herzurichten, dass vielleicht ein Teil der alten Festungsanlage wieder steht und vielleicht Tausende Besucher in die einzige Stadt Europas lockt, in der man so etwas mittelalterliches noch bewundern kann, würde den finanziellen Rahmen der Stadt sprengen. Die Auen- und Wiesenlandschaft nutzbar zu machen und Schwalmstadt als Fahrrad- und Inliner-Paradies touristisch zu entwickeln, erscheint zumindest als Herkules Aufgabe. Die Stadt so zu gestalten, dass die Aufenthaltsqualität zunimmt und damit Lebensqualität entsteht, Gewerbe- und Wohnraum nicht konkurrieren, aus der Stadt eine Einheit wird, ist so oder so „unbezahlbar“.
Alles oder nichts?
Mit einer Förderquote von 70 Prozent können Landesgartenschau-Städte rechnen. Auf diese Weise ließen sich viele sowieso geplante oder ersehnte beziehungsweise erwünschte Projekte miteinander verknüpfen, in einer Gesamtplanung vor allem in einer Gesamtfinanzierung zusammenfassen. Eine Landesgartenschau gibt es nicht zum Nulltarif, aber sie ist auch nicht „umsonst“. Die beiden Planer von „kienleplan“ strahlten gestern Begeisterung für das Projekt aus und konnten ganz offensichtlich viele Hundert Interessierte anstecken, denn tatsächlich finden viele Schwalmstädter die Idee inzwischen interessant. Bürgermeister Stefan Pinhard zeigte sich in der Stadtverordnetenversammlung zunächst nicht als begeistert, erkennt aber inzwischen durchaus viel Chancen. Und wenn die Stadt es so will, zeigt er sich als Demokrat, dann machen wir das auch richtig!
Machbarkeitsstudie soll Klarheit schaffen – Dialog mit den Bürgern
Die Machbarkeitsstudie soll jetzt einerseits ergründen, was möglich ist und andererseits eine Prognose dazu ermöglichen, ob sich das Ganze für die Stadt rechnet oder nicht. Dabei kommen Projekte in die Waagschale, die ohnehin anstehen, solche die man liebend gerne hätte und solche, die als imaginäre Werte einfach die Lebensqualität in der Stadt erhöhen. Diejenigen, die danach noch sagen, „hier ist es nicht schön“, „hier ist nichts los“, „die Stadt macht nichts aus sich“, „in Schwalmstadt wird nur gestritten“, dürften deutlich weniger werden. Diejenigen, die Schwalmstadt wahrnehmen und schön finden, dürften auch außerhalb von Treysa und Ziegenhain zunehmen.
Der Dialog mit den Bürgern soll weitergehen, sagt Stadtmanager Achim Nehrenberg. Und auch wenn die Stadt entscheidet, dass eine Bewerbung nicht sinnvoll ist, oder sie einer der vier anderen Städte im Auswahlverfahren unterliegt (noch nie haben sich fünf Kommunen gleichzeitig beworben), ist ein Dialog entstanden, der für diese Stadt bereits unbezahlbar ist. (Rainer Sander)
2 Kommentare
Profitieren werden alle Stadtteile von der Landesgartenschau 2027. Denn diese Veranstaltung ist keine Veranstaltung der Verwaltung, sondern aller Bürger mit der Stadt zusammen. Wenn man jetzt durch Schwalmstadt fährt, sieht man keine Initiative der Bürger als Gesamtes, sonder einige wenige in Eigeninitiative hergerichtete Verschönerungen von Hausfassaden mit Blumen und Hecken, Vorgärten und Höfen. Doch die Masse der Straßen und Plätze sind keine Augenweide. Tut jeder etwas für das Gesamtbild der Stadt, wirkt sich das auf alle aus. Hessentage finden leider auch nur in den Hauptorten statt, trotzdem beteiligen sich viele in den Ortsteilen.
In dem Artikel stecken viele gute Gedanken und richtige Betrachtungen über die „Stadt“ Schwalmstadt. Leider haben Sie, Herr Sander, übersehen, dass Schwalmstadt nicht nur aus Ziegenhain und Treysa besteht. Aber genau das macht die Probleme nur noch größer, die Sie anschaulich beschreiben.
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