Baunatal im Würgegriff dessen, was schon immer so war
BAUNATAL. 10.000 €uro für einen Sportentwicklungsplan haben die vier Fraktionen in der Baunataler Stadtverordnetenversammlung – auf Initiative der Grünen – gemeinsam verabschiedet, und zwar Anfang Februar, als die Auswirkungen von Corona auf die städtischen Finanzen und das soziale Miteinander in keiner Weise absehbar waren.
Was dieser Plan leisten soll, warum er überhaupt etwas leisten soll, und welche Gesichtspunkte dafür in Nordhessens drittgrößter Stadt eine Rolle spielen, darüber sprachen am Donnerstagabend Bürgermeisterin Silke Engler, erster Stadtrat Daniel Jung, Stadtverordnetenvorsteher Henry Richter sowie verschiedene Stadtverordnete und Magistratsmitglieder mit 170 Bürgerinnen und Bürger der Sportstadt und den Professoren der „Deutsche Berufsakademie Sport und Gesundheit“. Henry Richter leitete die Veranstaltung mit der Feststellung ein, dass eine Sportstadt nicht geboren, sondern gemacht werde.
Silke Engler: Veränderung der Bindung zu Vereinen und im Freizeitverhalten
Also kann man sie auch neu machen? Zumindest kann man es versuchen und etwas Neues ist per se nicht auch etwas Schlechtes. Wobei der Sportentwicklungsplan in der Betrachtung von Bedarf und Bedürfnissen durchaus zu dem Schluss kommen könnte, dass alles gut ist, so wie es ist. Dass nicht alles passend sein wird, so wie es einmal gedacht war und unter Manfred Schaub bereits planerisch begleitet wurde, sprach Bürgermeisterin Silke Engler mit der Betrachtung von gesellschaftlichen Prozessen an, unter denen sich der Bindungswille junger Menschen zu (Sport) Vereinen und das Freizeitverhalten stark verändert haben. Sie kam nicht umhin, zu erklären, dass inzwischen eine völlig andere Wirklichkeit das Leben in Baunatal bestimmt. Es findet eine Vereinzelung statt. Dass die Stadt sich ihr Engagement für den Sport 2,7 Millionen €uro jedes Jahr kosten lässt, könnte – wenn die politische Mehrheit das so sieht – bald der Vergangenheit angehören?
Insgesamt 88 Millionen €uro hat die Stadt Baunatal – bisher bestimmt durch die Dieselkrise und nun durch Corona – bereits nicht eingenommen. In diesem Jahr fehlen allein 26 Millionen €uro Gewerbesteuer. Von eingeplanten 34 Millionen werden nur noch 8 Millionen in die Kassen der Volkswagenstadt fließen. Das ist etwa ein Drittel des gesamten Haushaltes von 80 Millionen €uro und zehnmal so viel, wie die Stadt insgesamt für den Sport ausgibt. Ziel sei jetzt nicht, dass die Berufsakademie einen Auftrag bekommt oder sich Politiker selbst beschäftigen, sondern Veränderungsprozesse selbst einzuleiten. Veränderungen können durchaus Verbesserungen sein.
Informationen von Bürgern, Experten und Vereinen sammeln
Professor Dr. Kuno Hottenrot und Professor Dr. Matthias Obiger von der Berufsakademie, die mit 170 Studenten zu einem bedeutenden Studienstandort geworden ist, stellten ihre Ideen für das Entstehen eines Sportentwicklungsplanes vor. Sie wollen zuerst den Bestand erheben, vor allem aber Informationen von den Bürgern sammeln, außerdem von Experten und den Vereinen. Der Bedarf und die Bedürfnisse aber auch Gelegenheiten, die sich bieten und die Frequenz von Nutzungen werden erfasst. Wer treibt wann, wie und wo welchen Sport ist eine entscheidende Frage. In allen sieben Stadtteilen wird es Informationsveranstaltungen geben, die für ad hoc-Befragungen zusätzlich genutzt werden.
Das Ziel ist ein rundes und umfangreiches Bild, welches mithilfe eines sportlich schlanken Fragebogens gezeichnet werden soll. Was geschieht wo, wie oft und wie lange, beziehungsweise wie intensiv? Geschieht es im Verein oder ist es Freizeitsport? Bei den Sportstätten werden die Art, die Größe, der bauliche Zustand, der Standard, die Nutzung und die Kapazität in den Entwicklungsplan einfließen. Um auch die jahreszeitliche Nutzung und Auslastung zu ermitteln, wird zweimal, nämlich im Sommer und im Winter gefragt.
Basketball und Sportbad im Vordergrund
Wer in Baunatal einen solchen Auftrag annimmt, wird wissen, dass er im Grunde dabei nichts gewinnen kann. Entweder kostet die Zukunft Geld oder sie ist mit Verzicht verbunden und das könnte durchaus schmerzhaft ausfallen. Einen Vorgeschmack liefern gerade zwei Diskussionen: die eine über zwei abgeschraubte Basketballkörbe und eine andere über die mutmaßlich unmittelbar bevorstehende Schließung des Sportbades im AquaPark. In beiden Fällen gelingt es den Betroffenen – mit ihren verständlichen Anliegen – auch ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit zu erzeugen und gleichzeitig politische Funktionsträger zum Vorpreschen zu motivieren, weil sie ahnen, vor der Kommunalwahl politisches Terrain erobern zu können.
In beiden Fällen hätten die Nutzer der Anlagen gerne genau jetzt eine Entscheidung in ihrem Sinne. Ob es klug ist, angesichts zweier Basketballkörbe und einer, wie Frau Engler betonte nicht beantragten Schließung des Sportbades (es ist lediglich zu befürchten, dass die Technik bald schlapp macht) den Untergang der Sportstadt Baunatal heraufzubeschwören, anstatt den Sportentwicklungsplan abzuwarten, wird sich zeigen.
Gelbwesten, Drohgebärden und Lügenvorwürfe
Wer mit gelben T-Shirts bewusst die Symbolik obrigkeitskritischer Massenproteste in anderen Ländern (Gelbwesten) aufgreift, zeigt, wozu er bereit ist. Stefan Krämer von der SG ACT Baunatal, der gemeinsamen Schwimmabteilung beider großer Baunataler Vereine mit der Kasseler ACT, ließ denn auch keinen Zweifel aufkommen mit der offenen Drohung, das Thema im Wahlkampf jeden Tag auf den Tisch zu bringen. Und er bezichtigt Bürgermeisterin und Verwaltung der Lüge: „wer macht eigentlich in der Politik Zahlen?“ Man könne, so Krämer, das Bad für die Hälfte der veranschlagten Kosten sanieren. Da es noch keine seriöse Kostenschätzung gibt und nahezu alle Badsanierungen in Nordhessen damit glänzen, dass am Ende die Kosten noch viel höher ausfallen, immerhin eine mutige These, die auch Bürgermeisterin Silke Engler zur Gegenfrage provozierte: „wer muss in Baunatal eigentlich Zahlen ermitteln, damit sie geglaubt werden?“ Drei Varianten seien in der Diskussion: eine Bestandssanierung, ein Neubau oder ein Anbau. Aber auch die Schließung eines der beiden Hallenbäder könnte eine Option werden. Die Schwimmer – in der Bürgerversammlung eindeutig in der Mehrheit – argumentieren mit Kompetenzverlusten. Schon jetzt können immer weniger Kinder und Jugendliche schwimmen.
Die Basketballer wollen wissen, warum auf dem neuen Platz die gefährlichen Büsche noch nicht geschnitten sind. Frau Engler erklärt in aller Gelassenheit, dass man zwischen verschiedenen Varianten zukünftiger Nutzung demnächst in der Stadtverordnetenversammlung zu entscheiden habe und es daher keinen Sinn mache, mit irgend einer spontanen Maßnahme seitens der Verwaltung Tatsachen zu schaffen, die möglicherweise durch politische Entscheidungen widerlegt werden.
Vereine stecken Grenzen ab
Die beiden Vereinsvorstände von KSV unter GSV schicken synchron Testballons Richtung Professoren-Duo. Timo Gerhold (KSV Baunatal) betonte den sozialen Mehrwert und die Wertschöpfung durch den Sport, auch der Wert des Ehrenamtes müsse in der Analyse eines Sportentwicklungsplans Berücksichtigung finden. Er erinnerte an den Sanierungsbedarf in Sporthallen und Schwimmbad. Karsten Helmuth (GSV Eintracht Baunatal) deutete mit der Aussage, dass sich bei 11.000 Kindern das Sportverhalten nicht verändert habe und sich auch nicht verändern werde, die Erwartungshaltung auf Bestandsschutz an.
Die meiste Redezeit nutzten politische Mandatsträger, wie Lothar Rost und Edmund Borschel von den Grünen, Luigi Coppola und Christian Strube von der SPD sowie Gisela Harte von der FDP. Lothar Rost vermutet, dass man statt mit 17 Millionen €uro auch mit 8 Millionen €uro für das Sportbad auskäme und Zuschüsse gar nicht angefragt worden sein. Das vermutet auch Lehrerin Andrea Göbel, die in beiden Vereinen Schwimmkurse gibt und forderte auf, den Bundestagsabgeordneten Timon Gremmels zu fragen, der habe gerade 5 Millionen €uro für ein Schwimmbad, in dem nichts stattfindet, nach Niestetal geholt. Vermutlich sehen die Niestetaler das mit anderen Augen.
Herzkasper als Lehrerin wegen mangelnder Schwimmkompetenz
Kathrin Richter bekommt als Mama und Lehrerin immer einen Herzkasper auf Klassenfahrten, weil jedes dritte Kind nicht schwimmen kann. Lediglich Herr Mengel vom Baunsberg fragte, ob man eigentlich alles unter Anleitung machen müsse. Vor der Existenz der Hallenbäder hätten auch alle Kinder das Schwimmen gelernt. Ihn interessierte vielmehr, wer für die Parkplätze an der Birkenallee zuständig ist, auf denen Fair Parken jetzt die Regie übernommen hat. Damit war der allgemeine Teil der Bürgerversammlung dann auch erledigt. (rs)
Kommentar:
Zumindest ist jetzt klar: Positionierungskämpfe werden nicht mit Wattebäuschchen geführt und sie werden nicht immer solidarisch geführt. Jetzt denkt erst einmal niemand an all die anderen, die es auch treffen wird es. Wenn eine Bürgerin in den Raum stellt, wenn man neben einen Basketballplatz zieht, wisse man auch, wie viel Krach dort entstehen kann, müsste man ehrlichkeitshalber entgegenhalten: wenn man nach Baunatal zieht, dann weiß man, dass man in eine Stadt gezogen ist, die von einem Konzern abhängig ist und dass niemand in dieser Stadt garantieren kann, dass daraus fortwährender, lückenloser Wohlstand entsteht.
Der Berg des Einnahme-Defizits ist zu groß, als dass man ihn mit bekannten Mitteln zügig abtragen könnte. Es gibt keine Lösung, die nicht nur irgendwo wehtut, sondern die überall wehtut. Wenn man das verstanden hat, dann kann man auch wieder agieren. Solange man gegen etwas ist, kann man nichts bewegen. Wer etwas aktiv mitgestaltet, kann wenigstens darauf Einfluss nehmen, dass es dort wehtut, wo man es am ehesten erträgt. Wer das nicht tut wird akzeptieren müssen, dass andere die Entscheidungen treffen.
Um es zu verdeutlichen: selbst wenn die Stadt alle drei Schwimmbäder schließen und Sport sowieso überhaupt nicht mehr fördern würde, wenn außerdem alle Kindergärten geschlossen, die Feuerwehren abgeschafft, Bücherei und Stadthalle geschlossen, der öffentliche Personennahverkehr eingestellt, Straßen nicht mehr gepflegt und zusätzlich die Straßenbeleuchtung konsequent ausgeschaltet werden würde, dann würde es zwar dunkel werden aber die Einsparung immer noch nicht ausreichen, um das Defizit aufzufangen.
Funktionieren würde die Variante, ausnahmslos alle Mitarbeiter im Rathaus, den Kindergärten, dem Bauhof und den Schwimmbädern, also allen städtischen Einrichtungen einschließlich Bürgermeisterin und Erster Stadtrat zu entlassen. Dann gäbe es kein Defizit mehr, aber auch niemanden mehr, der Kinder betreut, Brände löscht, alte Menschen unterstützt, Bauanträge bearbeitet, Personalausweise ausstellt, Straßen kehrt, Schnee beseitigt oder Veranstaltungen organisiert. Dann müsste jeder in Baunatal alles selbst machen.
Politik ist immer darauf ausgerichtet, dass es einen Sieger und einen Verlierer geben wird. Spätestens, alle 4, 5 oder 6 Jahre, je nach Wahlperiode, ist das auch unumstößlich der Fall. Dabei ist es nicht immer schön, Entscheidungen treffen zu dürfen. Das wird die SPD in Baunatal gerade jetzt am meisten denken. Es beginnt eine Phase, in der man wenig Freunde haben wird. Es ist allerdings mindestens genauso falsch als Opposition zu glauben, dass man Freunde dadurch gewinnt, in dem man erst einmal nur gegen alles ist, was gerade passiert und pausenlos Dinge fordert, die gerade verdammt schwer umzusetzen sind. Im Zweifel müsste man dann, nach 4, 5 oder 6 Jahren genau das einlösen, was man versprochen hat oder was die Menschen glauben, dass man es ihnen versprochen hat. Und wenn dann der Eindruck entsteht, dass die Menschen belogen wurden, weil man eigentlich auch keine Lösung hat – in dieser Situation auch gar nicht haben kann – dann wird es richtig bitter.
Allerdings hat Baunatal die einmalige Chance, genau jetzt die Spaltung der Stadtgesellschaft durch gemeinsames Handeln zu verhindern und mit Einsparungen, vertretbaren Kreditaufnahmen und neuen Konzepten so solidarisch wie möglich das Gemeinwesen am Leben zu erhalten. Das gilt nicht nur für den Sport, der jetzt den Anfang machen kann. Denn nur allein darüber lässt sich der Haushalt gar nicht sanieren. (Rainer Sander)
2 Kommentare
Na ja, Leser, wenn ich gerade erst unter viel Getöse einen Ballon, der ja wohl lediglich auf einem Gerücht basierte (ich sag da nur Original Play), gestartet hätte, würde ich auch erst mal vornehme Zurückhaltung an den Tag legen. Aus dem Ballon war mangels Wahrheitsgehalt die Luft schneller draußen als die CDU sie hineinpusten konnte. Mag sein, H. Stüssel schaut erst mal, welchen Weg dieser nächste Ballon nimmt. Man kann ja immer noch aufspringen. Könnte aber auch ne Art Arbeitsteilung sein und H. Richter und die Grünen mit Teilen von KSV und SG ACT Baunatal haben den neuen Part übernommen. Ist in meinen Augen schon wieder so ein windiges Ding, das nur zum Stimmung machen gut ist und letztlich in sich zusammenfallen wird. Die SPD-Fraktion müsste doch mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn sie sich aufgrund ausgeübten Drucks auf Zusagen einlassen würde, bevor der Sportentwicklungsplan ausgearbeitet vorliegt. Und wenn ich richtig gelesen habe, wird sie ihre Entscheidung von genau diesem Plan abhängig machen. Kurios ist nur, dass die Grünen den Antrag für den Sportentwicklungsplan vor ca. 7 Monaten selbst gestellt und alle 4 Fraktionen Gelder dafür gemeinsam beschlossen haben.
Und die Baunataler CDU war nicht in der Lage oder gewillt, wenigstens einen Vertreter zur Bürgerversammlung zu schicken. Nicht das erste Mal. Da kann jeder sich seine eigene Meinung zu bilden.
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