DIE KOLUMNE: deutsch, hessisch, lokal-katholisch, international-vegetarisch…

NORDHESSEN. Wir sind stolz darauf Deutsche zu sein, Hessen zu sein, besser noch Nordhessen, Kasseläner, Kasselaner oder Kasseler und drumherum Baunataler, Chattengauer oder Schwälmer? Was unterscheidet oder vereint Deutsche insgesamt und was macht dann den Hessen, den Bayern, den Nordhessen oder Südhessen, den Immenhäuser oder Korbacher aus?

Ich frage mich vor allem immer dann, was das ausmacht, wenn irgendein Nachbar zur Unzeit Rasen mäht oder bei einem anderen Nachbarn der Hund unaufhörlich bellt. Was – um alles in der Welt – habe alle diese Nachbarn mit mir gemeinsam? Und wie denken die alle bloß über mich? Was macht zum Beispiel einen Witzenhäuser oder Schrecksbacher aus? Oder uns Frielendorfer – dort lebe ich –, dass wir stets auf einem eigenen Bürgermeister und territorialer Eigenständigkeit (kommunale Selbstverwaltung) bestehen? In der Gemeindevertretung haben wir hier jahrelang darüber gestritten, ob wir ein Hallenbad mit Saunalandschaft bauen oder nicht. Das hat die Gemeinde regelrecht entzweit. Seit der Gebietsreform tobt Streit, ob die Kerngemeinde gegenüber den 15 anderen Ortsteilen bevorzugt oder benachteiligt wird. So richtig als Frielendorfer fühlt sich scheinbar niemand. Jedenfalls nicht nach innen, sicherlich aber nach außen.

Phantomschmerz und Streetball-Unfriede

In Schwalmstadt lässt der Phantomschmerz einfach nicht nach: die Treysaer wollen Treysaer bleiben, die Ziegenhainer natürlich Ziegenhainer. Die Argumente sind auf beiden Seiten gleichermaßen substanzlos und fast jeder Streit zwischen den Stadtteilen wird immer nur stellvertretend für irgendetwas anderes geführt. In Edermünde oder anderen Orten ist das übrigens kaum anders.

Aktuell streitet man in Baunatal und in Schwalmstadt – unabhängig voneinander – darüber, wo ein Basketball- beziehungsweise Streetballfeld am besten aufgehoben ist. Mitten in der Stadt oder am Stadtrand? In Baunatal möchte der SPD-geführte Magistrat den dabei entstehenden Lärm gerne reduzieren und die Jugendlichen aus Wohngebieten in der Innenstadt verbannen. In Schwalmstadt möchte umgekehrt die CDU ein Basketballfeld an der Peripherie. Klar, dass in Baunatal CDU, Grüne und FDP das Ganze in der Stadtmitte behalten wollen und in Schwalmstadt die SPD die Peripherie als ungeeignet betrachtet, weil die Jugendlichen das nicht annehmen werden. Es ist also nicht mal grundsätzlich klar, was SPD und CDU oder all die anderen Parteien generell wollen. Vor Ort denken Sie von Stadt zu Dorf oft genau andersherum. Was also macht Lokalkolorit wirklich aus?

Unkraut oder Steine im Vorgarten?

Wir ärgern uns über Nachbarn, die viel Unkraut im Garten wuchern lassen oder im Gegensatz dazu nur noch Steine und keine Pflanzen mehr im Vorgarten haben wollen oder uns mit hohen Bäumen das Sonnenlicht rauben. Es ist bescheuert, wenn jemand plötzlich einen Wintergarten oder eine Garage anbaut und unerträglich, wenn der Nachbar – oder schlimmer noch ein Fremder – in unserer Garageneinfahrt sein Auto wendet. Im Hochhaus ist entweder unerträglich, wenn ständig Grillduft vom Nachbarbalkon in die Nase weht oder jemand lieber Heino als Rammstein, das aber ganz laut hört. Es sind Idioten, die uns auf der Autobahn überholen und Schlafmützen, die langsam in der Stadt vor uns herfahren. Bei Lichte betrachtet ist jeder Autofahrer, der schneller oder langsamer fährt als wir, gefühlt völlig anders. Also alle!

Die einen finden Fußball gut, die anderen Eishockey. Es gibt Handballer und Leichtathleten. Die Läufer finden Nordic-Walker lustig, die Nordic-Walker ärgern sich über die Raser im Wald und beide gemeinsam sind entsetzt, wenn ein Mountainbiker ihre Wege kreuzt.

Helden sind Helden – wo wir sind keine Helden…?

Es ist fast eine Pflicht, Fan irgendeines Bundesligavereins zu sein! Natürlich bevorzugt des örtlich nächsten, am heiligsten ist aber der Streit zwischen FC Bayern und Borussia Dortmund, beziehungsweise Leipzig im Osten. Schalke, der HSV und Gladbach haben sich ein bisschen unattraktiv gemacht, weil sie finanziell nicht wirklich mithalten können (oder wollen). Ob wir bei den Siegern oder Verlierern sind, hängt also extrem davon ab, welche Sponsoren für das Glück auf dem Platz sorgen. Münchner spielen in München sowieso kaum noch, genauso wenig wie Dortmunder in Dortmund. Die Mannschaften sind aber Identifikationsfiguren für die gesamte Stadt, Region oder die halbe Nation.

Corona-Angst – versus Corona-Leugner

Wir haben Menschen, die vor Corona Angst haben und solche, die gar nicht glauben können, dass es das Virus überhaupt gibt. Wir haben Menschen, die Adolf Hitler wahnsinnig sympathisch finden und solche, die ihm nicht vergessen können, dass er ihre ganze Familie umgebracht und die Welt in Brand gesteckt hat. Die einen erinnern sich in Auschwitz oder Buchenwald an diese Zeit, die anderen machen kindlich-naiv die Augen zu und glauben, dass es das alles nicht gibt, was sie dann nicht sehen.

Wir haben Vegetarier und Fleischfans, wir sind medizingläubig oder schulmedizinkritisch. Die einen gehen lieber zum Arzt, die anderen lieber zum Heilpraktiker. Für die einen gibt es nur noch Bio, die anderen hassen alle Menschen, die Bio lieben. Die einen wollen dem Klimawandel trotzen und sind bereit dafür sogar Geld auszugeben, die anderen finden, dass Klima eigentlich Wetter ist und fragen sich, was das alles soll. Die einen wollen Ressourcen sparen, den anderen ist es völlig schnurz, ob ihre eigenen Kinder irgendwann im Kalten sitzen und keine lebenswerte Welt mehr vorfinden, Hauptsache ihnen geht es jetzt, in diesem Moment richtig gut? Es sind nicht solche Menschen besonders glücklich, die immer gegen alles kämpfen, denn meist sind es die diejenigen, die das Leben so nehmen können, wie es ist, die uns lächelnd begegnen, weil es ihnen gut geht.

Unglück: Showtime oder Hilfsbereitschaft?

Die Art und Weise, sich über diese unterschiedlichen Vorlieben, Lebensgewohnheiten, Einstellungen, Wahrnehmungen und Lebensphilosophien zu streiten, wird immer härter. Immer mehr Menschen finden, dass alle Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter kein Daseinsrecht besitzen und prügeln los. Andere freuen sich, wenn diese ihr Leben retten. Die einen fotografieren lieber Unfälle und ärgern sich, wenn Hilfskräfte vor der Linse rumlaufen, die anderen helfen stattdessen selbst. Die einen sind optimistisch und ihr Glaube ist unerschütterlich, die anderen glauben ständig nur daran, dass die Welt bald untergeht. Was also macht den Deutschen aus, die Hessin oder was unterscheidet den Kaufunger von der Waldeckerin?

Ich überlege, ob es nicht viel sinnvoller wäre, dass wir nicht über Obergrenzen von Ausländern in unserer Heimat sprechen, sondern überlegen, ob wir Dörfer und Städte oder gar Bundesländer und Staaten besser nach Vorlieben bilden?

Zusammenleben nach Lebenseinstellung?

Vielleicht ähneln sich deutsche, holländische und afghanische Vegetarier mehr als deutsche „Carnivoren“ und Vegetarier? Ich überlege, ob ein rein evangelisches Frielendorf nicht besser wäre als ein multikonfessionelles? In einem der 16 Ortsteile könnten dann Protestanten leben, die lieber zum Arzt, als zum Heilpraktiker gehen und gleichzeitig das Klima retten wollen, in einem anderen Ortsteil solche, die gegen Windräder und Elektroautos sind und so weiter. Wie wäre es mit einem Fritzlar voller Senioren und einem Borken ausschließlich für die Jugend? Bei einer zweiten Corona-Welle müsste man dann auch nur noch eine einzige Stadt abriegeln. Oder in Homberg alle, die ein Signalhorn nicht stört und die Rettungskräfte mögen, in Felsberg meinetwegen diejenigen, die bei Unfällen und Bränden grundsätzlich keine Hilfe wollen, weil das alles nur nervt.

Und was macht jetzt uns Deutsche aus? Die Wut oder der Streit oder die Angst? Vielleicht sollten in Deutschland überhaupt nur noch Menschen leben, die Angst haben und beispielsweise in Großbritannien alle Mutigen, die gerne selbständig handeln.

OK, stimmt, das ist bereits auf dem Weg…

Ihr

Rainer Sander