Baunatal: 26 Millionen Euro weniger Gewerbesteuer
BAUNATAL. Bürgermeisterin Silke Engler weiß sehr wohl: wenn man von einem großen Steuerzahler abhängig ist und das ist in Baunatal der Volkswagenkonzern, dann folgt Einnahmeentwicklung im Haushalt den Konjunkturdaten. Eine kontinuierliche, verlässliche Gewerbesteuereinnahme, wie in vielen Kommunen normal, kennt die Volkswagen-Stadt kaum.
Was aber ist, wenn plötzlich ein Drittel der Gesamteinnahmen in der Kasse fehlt und aus dem breiten Strom bereits in den vergangenen drei Jahren ein Rinnsal geworden ist? Seit 2015, so Engler, ist Diesel-Krise und eigentlich hatte sich die Stadt darauf eingestellt, dass 2020 wieder relativ normal verläuft. Dann kam im März Corona, dann kamen die ersten Quartalszahlen, zum 30. Juni 2020 sah es noch moderat aus, aber inzwischen ist die Situation eindeutig und auf den ersten Blick durchaus dramatisch. Das Problem: auf den zweiten oder dritten Blick auch…
Wenn ein privater Haushalt ein Drittel des Einkommens verlieren würde, müsste er wohl das Auto verkaufen, sich eine billigere Wohnung mieten und auf Jobsuche gehen. Das ist für eine Kommune schlecht möglich.
8 Millionen anstatt 34 Millionen Euro
Die Gewerbesteuereinnahmen werden um sage und schreibe 26 Millionen Euro auf nur noch 8 Millionen Euro schrumpfen. Bei einem Gesamthaushalt von 80 Millionen Euro fehlt damit ein knappes Drittel insgesamt vom eingeplanten Geld, von der Gewerbesteuer gut drei Viertel.
Ursache ist, dass die Gewerbesteuer als Vorauszahlung auf Basis der Vorjahresgewinne vorausgezahlt werden und wenn sich in den Unternehmen abzeichnet, dass sich Gewinne verringern oder gar ausbleiben, dann können diese Vorauszahlungen entsprechend gekürzt werden. Die Finanzämter sind unter dem Eindruck von Corona hier auch zur Großzügigkeit verpflichtet. Die absolute Wahrheit gibt es erst dann, wenn die Jahresabschlüsse erstellt sind, also 2021 oder erst 2022.
Gesamter Mittelstand ist betroffen – nicht nur VW
Allerdings ist es nicht nur der Volkswagenkonzern, der seine Abschläge reduziert. Bereits 100 solcher Anträge von mittelständischen Unternehmen aus Baunatal sind inzwischen bei den Finanzbehörden und der Stadt Baunatal eingegangen. Das Fatale an der Situation ist, wenn Unternehmen sogar Verluste schreiben, dann können diese auf die Folgejahre vorgetragen werden und reduzieren damit auch 2021 und 2022 noch einmal die Gewerbesteuer.
Nun wird alles auf den Prüfstand kommen, ein Loch in dieser Größenordnung lässt sich nicht einfach ausgleichen. Die Stadt hatte über viele Jahre vorgesorgt und Rücklagen gebildet. Aber durch die Dieselkrise sind umgerechnet schon 88 Millionen Euro ausgeblieben und irgendwann ist das Geld auf der „Hohen Kante“ dann auch einmal alle. Wer auf Hilfe aus Berlin und Wiesbaden hofft, ist auf kommunaler Seite schnell enttäuscht. 2,7 Millionen Euro stehen für Baunatal auf der Liste aus der Landeshauptstadt. Das gleicht gerade mal 10 % des fehlenden Betrages aus. Und was an Einkommen- und Umsatzsteueranteilen zusätzlich verloren geht, kann bis heute noch niemand vorhersagen.
Silke Engler: Stadt neu erfinden
„Wir müssen die Stadt im Grunde neu erfinden“, sagte die Bürgermeisterin Silke Engler beim Pressegespräch heute Morgen im Baunataler Rathaus. „Ich sehe in der Situation aber durchaus auch eine Chance! Ich bin sicher, dass sich Baunatal auch zukünftig mehr wird leisten können als andere. Aber die Herausforderung muss die Stadt zunächst anzunehmen. Eins ist klar, jeder in Baunatal davon etwas spüren. Die letzten Krisen sind kaum bis in die privaten Haushalte vorgedrungen. Das wird diesmal anders sein.
Wenn die Baunataler Bürger in den Spiegel und ihren Haushaltsplan schauen, werden sie sehen, wie viel Baunatal bisher mehr geleistet hat als andere Städte und Gemeinden und wie viel weniger die Bürgerinnen und Bürger dafür selbst aufwenden mussten. Trotzdem wird jeder Einschnitt schmerzhaft sein.
Lösungen gemeinsam in der Stadt-Gesellschaft entwickeln
Zusammen mit Politik, Verwaltung und den Bürgern sowie ihren Vereinen möchte Engler jetzt Ideen sammeln und an Lösungen arbeiten. Es geht sicherlich nicht darum, sich zu bedauern, sondern etwas zu tun! Transparenz ist für sie jetzt nicht nur ein magisches Wort, sondern Notwendigkeit. Es geht nur gemeinsam und „wir werden die Bürgerinnen und Bürger einbeziehen!“
Die Familien, Arbeitnehmer, Kinder, Jugendlichen, Arbeitslose, Senioren oder behinderte Menschen werden selbst formulieren können, was sie unbedingt behalten wollen, für was sie bereit sind, mehr zu bezahlen und bei was eine Mehrbelastung eine unzumutbare Härte darstellt. Die Digitalisierung wird Baunatal nun schneller vorantreiben müssen und viele Prozesse werden neu zu überdenken sein. Damit wird Baunatal vielleicht früher an den Punkt gelangen, für den sich andere Kommunen noch Zeit lassen können und hat dann irgendwann wieder die Nase vorn. Das ist auch aus einem anderen Grund wichtig, sagt Silke Engler: Der VW-Konzern richtet sich neu aus auf E-Mobilität. Auch das wird Veränderungen bei der Gewerbesteuer und den Arbeitsplätzen (also auch beim Einkommensteueranteil) nach sich ziehen.
Der ganze Landkreis Kassel wird davon etwas spüren
Jetzt wird allerdings auch der Landkreis – etwas zeitversetzt – davon etwas spüren, denn ein nicht unerheblicher Teil der Gewerbesteuer fließt über die Umlage in den Kreishaushalt. Als Sofortmaßnahme werden im Rathaus und den städtischen Betrieben zunächst einige Stellen nicht besetzt, die nicht unbedingt benötigt werden und es werden (fast) alle Ideen, die im Rathaus bereits erarbeitet wurden, in den Papierkorb wandern. Das mit dem „neu erfinden“ war und ist durchaus ernst gemeint… (Rainer Sander)
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