VIDEO-PODCAST: MdEP Engin Eroglu zum Europatag im Gespräch mit Rainer Sander (nh24)
SCHWALMSTADT. Gestern war Europatag, also der Tag, an dem der Grundstein für die Europäische Union gelegt wurde. nh24-Redakteur Rainer Sander hat aus diesem Anlass mit dem „Schwälmer Europa-Abgeordneten“ Engin Eroglu über die EU, sein erstes Jahr in Brüssel und die Auswirkungen der Corona-Pandemie gesprochen.
Engin Eroglu (Schwalmstadt) ist Stellvertretender Bundesvorsitzender der FW (Freie Wähler) und seit einem Jahr Abgeordneter im Europäischen Parlament und dort Teil der Fraktion „Renew Europe“.
nh24: Im Mai 2019 war die letzte Europawahl, da sind sie zum ersten Mal nach Brüssel gewählt worden. Welche Erwartungen haben sich erfüllt?
Engin Eroglu: Was sich unter anderem nach vielen Jahren ehrenamtlicher Kommunalpolitik erfüllt wird, ist ungefiltertes Wissen zu bekommen, an einer Stelle, an der ich nicht belogen werde. Der wissenschaftliche Dienst des europäischen Parlaments ist parteineutral, hoch kompetent und kennt sich mit europäischen Recht und verschiedenen Systemen aus. Dort bekommt man von erfahrenen Wissenschaftlern, die aus 27 Nationen filtern fundiertes Wissen, dass politisch verarbeitet werden kann für den Bürger. Auf meiner Homepage sieht man viele Beispiele hierfür.
nh24: Das heißt, das europäische Parlament hat eine neutrale Instanz, die allen Abgeordneten zur Verfügung steht?
Engin Eroglu: Einen hervorragenden wissenschaftlichen Dienst gibt es im Bundestag auch, der betrachtet aber aus der nationalen Ebene heraus. Man kann nicht sagen, das eine ist besser oder schlechter, aber die vergleichende europäische Sichtweise aus den Systemen herausfinde ich enorm spannend und wichtig. In der Kommunalpolitik, wo ich her komme, muss man sich selbst viel beibringen. Dort wäre so etwas nicht möglich, aber ich kann für alle Entscheidungen Beratung vom wissenschaftlichen Dienst einholen und muss nicht zwei Monate auf Antworten warten.
nh24: Haben sich dabei Sichtweisen verändert?
Demokratie in Brüssel ist anders
Engin Eroglu: Auf jeden Fall! Wir haben im Europaparlament kein Initiativrecht, um Anträge zu stellen. Die Gesetzgebung in Brüssel ist nicht wie in Deutschland. Bei uns in Deutschland ist das Parlament das höchste Organ. In Brüssel muss man auch stark im Rat vertreten sein. Es gibt nicht nur Fraktionen, sondern innerhalb der Fraktionen über 100 Parteien. Hier Kompromisse hinzubekommen, ist ein spannender Prozess und nicht immer einfach. In meiner eigenen Fraktion sind nach dem Brexit noch 21 Nationen aber mitunter mehrere Parteien aus einem Land. Die Parlamentsarbeit in Brüssel ist um einiges komplexer.
nh24: Und am Ende entscheiden oft die Regierungschefs?
Engin Eroglu: Ja, der Rat! Deshalb habe ich einen eigenen Flyer entwickelt, der nicht für mich oder die FREIE WÄHLER Werbung macht, sondern wo wir den Bürgern das Europäische Parlament, die EZB, die europäische Kommission und den Gesetzgebungsprozess erklären. Selbst die Medien bekommen das oft nicht hin. Frau von der Leyen wird oft als Chefin des Europäischen Parlaments bezeichnet. Das ist aber David Sassoli. Und wen kaum jemand kennt, Charles Michel, der Präsident des europäischen Rates, der Präsident der Präsidenten. Wenn es also einen mächtigen Mann in Brüssel gibt, dann ist er es. Wenn er es nicht schafft Einstimmigkeit im Rat herzustellen, dann bewegt sich in Europa ziemlich wenig. Also, ich betreibe Aufklärungsarbeit. Eigentlich ist die Bundestagswahl schon Europawahl, denn wer Bundeskanzler ist, ist für Europa extrem wichtig.
nh24: Sie machen zwar nicht den Eindruck, aber ist dabei auch so etwas wie Desillusionierung zu spüren?
Urteil mit weitreichenden Folgen – Hinterzimmer-Beschlüsse gehen nicht mehr
Engin Eroglu: Ich bin ja ein hemdsärmeliger Typ, gehe gerne auch mal mit dem Kopf durch die Wand – wenn es sein muss – und man kann in den Fachausschüssen des Parlaments einiges bewegen. Bei einer Minute Redezeit kann man wenig im Parlament erreichen. In meinem Ausschuss für Wirtschaft und Währung da geht es um Kompetenz und Wissen. Hier kann man ansetzten und sehr viel Bewegen, wenn man Mehrheiten hinbekommt. Renew Europe ist immerhin die drittgrößte Fraktion. Da wird bei der Komplexität vieler Themen nicht nach Land oder politischer Zugehörigkeit gefragt.
Zum Beispiel habe ich es so hinbekommen, dass erstmalig das Parlament der EZB mitteilt, dass das Bargeld in Europa nicht abgeschafft werden soll. Auch habe ich als Währungs- und Wirtschaftsfachmann immer gesagt, dass der europäische Rettungsschirm nicht mit deutschem Recht konform ist und bin häufig als wirtschaftskonservativer Deutscher abgehakt worden, der den anderen das Geld nicht gönnt, für welches sich Deutschland weiter verschulden muss. Die Börsenzeitung hat mich mal als „The German“ betitelt und jetzt hat das oberste deutsche Gericht meine Aussagen bestätigt.
nh24: Und welche Konsequenzen hat das jetzt?
Engin Eroglu: Das wird jetzt spannend! In Deutschland wird das noch nicht so diskutiert, aber der französische Außenminister hat den deutschen Bundesgerichtshof kritisiert. In übersetzter Form haben die Richter aber nur gesagt, ihr – EZB, Bundesregierung und Bundestag – habt eure Arbeit nicht gemacht. Die EZB muss erst einmal erklären und die Bundesregierung kann den Fehler in drei Monaten heilen. Normalerweise hätte die Bundesregierung klagen müssen, denn das Gesetz ging gegen deutsches Recht. Schade, dass deutsche Privatleute hier klagen mussten. Es geht nicht um Steuerhinterziehung über 10.000 €, sondern ein Viertel aller Käufe – das sind Billionen – der EZB macht die Deutsche Bundesbank. Würde sie jetzt aussteigen, bräche das System zusammen. Hoffentlich entsteht jetzt ein entsprechendes Bewusstsein in Berlin. Still und heimlich in der Hinterkammer Beschlüsse zu fassen, geht nicht mehr.
nh24: Ist das nicht ein wunderbarer Beleg, wie Gewaltenteilung funktioniert kann?
Engin Eroglu: Ja natürlich und ich freue mich, auch wenn ich weiß, dass das es auch hätte anders herum ausgehen können. Aber die Geburtsstunde der FREIE WÄHLER 2008 war ja die Unzufriedenheit mit den Europäischen Rettungsschirmen. In den Kommunalparlamenten gibt es uns schon seit gefühlt 100 Jahren aber die Europäische Ausrichtung wurde damit bestätigt.
nh24: Ich habe das Gefühl, dass Gerichte im Moment eine große Rolle im politischen Leben spielen?
Engin Eroglu: Das spannende ist, dass wir immer gesagt haben, dass das EuGH die nationalen Gerichte „umarmt“. Und jetzt hat erstmalig ein nationales Gericht sich aus dieser Klammer „befreit“. Das öffnet natürlich die Tür für viele politische Themen auch auf anderen Ebenen. Und es waren nicht Orban, oder die PIS-Partei in Polen, sondern ein wir Deutschen zu einem Sachthema mit Faktenlage und Gesetzgebung und nicht etwa aus ethischen oder emotionalen Gründen.
nh24: Jetzt kommt mit Corona auch noch ein kleines Virus und wirbelt jede Ordnung durcheinander, die uns bisher Sicherheit gegeben hat. Wie verunsichert erleben Sie die Menschen in Europa zurzeit?
Corona: Erst zu wenig, dann zu sehr ernst genommen
Engin Eroglu: Sehr! Ich bin in den letzten zwei Monaten aufgrund der Ausgangssperre wenig zu Gesprächen mit den Bürgern gekommen, sondern habe mich in der Europabubble bewegt. Ich stelle fest, dass viele Europaabgeordnete verunsichert sind, aber auch viele Mitarbeiter. Die Ebene, die das verarbeiten muss, ist auch unsicher. Die Unsicherheit kommt daher, dass man über das neue Virus zu wenig wusste. Vor allem, dass es hauptsächlich bei Menschen mit Vorerkrankungen tödlich ist.
Am Anfang hat man den Virus zu wenig ernst genommen, am Ende dann zu ernst genommen, um vielleicht auch Fehler wieder auszubügeln. Inzwischen wissen wir, dass ein Sicherheitsabstand schon um einiges die Verbreitung verlangsamt. Aus der Unsicherheit um das eigene Leben wird jetzt eine Unsicherheit darüber, wie die wirtschaftlichen Folgen sein werden. Wer soll das irgendwann wieder zurückbezahlen? Eine Frage, die ich jetzt mehr und mehr höre. Ich merke immer mehr, dass die Menschen langsam begreifen, dass das Geld, was Berlin ausschüttet, Schulden sind. Kredite müssen wir zurückzahlen. Der Lockdown in Deutschland hätte in dieser Härte wahrscheinlich nicht sein müssen oder dürfen.
nh24: Es gab aber keine Blaupause. Wir können nirgends abgucken, was ich schon mal bewährt hat oder irgendwo gescheitert ist. Es war ja nicht so ganz einfach, oder?
Unser Gesundheitssystem wurde unterschätzt und nicht genutzt
Engin Eroglu: Nein, es war nicht einfach, jedoch man hätte die Gesundheitssysteme in Europa beziehungsweise mit China vergleichen können. Unser Gesundheitssystem ist besser aufgestellt als viele andere in Europa. Wir zahlen 15 % unseres Einkommens an die Krankenkasse. Das findet man im europäischen Vergleich so schnell nicht noch einmal. Woanders wählen die Menschen Parteien, die darauf wenig Wert legen und mehr Netto vom Brutto versprechen. In Deutschland wählen wir andere Parteien, nämlich solche, die Krankenhäuser ausbauen und ein modernes Gesundheitssystem aufbauen möchten. Russland und China haben Krankenhäuser gebaut, was hier nicht nötig gewesen ist. Wir mussten auch keine Feldlazarette bauen, sondern haben freie Betten in den Krankenhäusern. So konnten wir sogar – solidarisch – erkannte Bürger aus den Nachbarländern aufnehmen. Man kann das mathematisch sicher darstellen und ich bin der festen Überzeugung, der Weg, den Schweden gegangen ist, der bessere Weg für uns gewesen wäre.
nh24: Da wo Platz war, durften die Kunden nicht hin und wo man eng stehen musste war es erlaubt?
Engin Eroglu: Genau! Die 800-Quadratmeter-Lösung war politische Willkür. Ich bin doch froh, wenn sich Kunden auf 1000 Quadratmeter verteilen. Das solche Geschäfte nicht öffnen durften kann ich nicht nachvollziehen. Durchaus eine Regelung X qm je Kunde, die es zum Glück jetzt gibt.
nh24: Kann es sein, dass hier viel mit Ängsten gespielt wird? Gerade die Virologen haben immer auf Italien gezeigt und gewarnt, was hier auch alles passieren kann. Man kann bei Wikipedia nachlesen, dass ein Drittel aller Krankenhauskeim-Opfer innerhalb der EU in italienischen Krankenhäusern sterben. Hätten sie das anders gehandhabt?
30.000 Kurzarbeitende im Gesundheitswesen sprechen für sich
Engin Eroglu:
Auf jeden Fall! In der Sparkasse habe ich gelernt, dass falsche Informationen zu falschen Investitionen führen. Jetzt haben in Deutschland ein Gesundheitssystem aufgebaut und finanziert und es schließlich kaum genutzt. Das System ist bei einer harten Grippewelle stärker beansprucht. Über 30.000 Angestellte aus unserem Gesundheitssystem wurden mit Kurzarbeit nach Hause geschickt. Natürlich tut mir jeder Verstorbene und auch erkrankte Patient leid. Aber wir verbieten auch nicht, dass in deutschen Haushalten mit Leitern gearbeitet werden darf. Die meisten Unfälle passieren aber in Haushalten. Wir verbieten auch nicht mit dem Auto an die Arbeit zu fahren, obwohl es so viele Verkehrstote gibt. Mir hat wirklich Maß und Mitte gefehlt, allerdings ist das Ergebnis des Lockdowns, dass wir hervorragend aus der ersten Welle rauskommen sind. Mit Folgeschäden in der Wirtschaft und einer Verschuldung, die noch nicht beziffert ist. Dennoch hat mir die Rolle der Bundeskanzlerin sehr gefallen, sie ist ruhig geblieben und hat nicht wie Europäische Kollegen von Krieg gesprochen. Den haben wir nicht!
nh24: Es wurden auch viele Existenzen zerstört?
Engin Eroglu: So ist es leider. Ich bleibe dabei. Der totale Lockdown war nicht nötig. Hinzu kommt noch, dass wir in Deutschland neben dem gesetzlichen Gesundheitssystem auch sehr viele, gute private Rehakliniken haben, was es so in Europa auch kein zweites Mal gibt. Die Menschen kommen aus der ganzen Welt zu uns in die Rehas. Wir hätten mehr wie Schweden und weniger wie unsere Freunde aus dem Süden handeln sollen.
nh24: jetzt schauen wir aber nach vorne, was würden Sie nun noch anderes machen?
Engin Eroglu: Egal was passiert, auch wenn eine zweite Welle kommt, ein zweiter Lockdown darf nicht gemacht werden. Ich wünsche keinem, dass er beatmet werden muss. Das muss schrecklich sein. Jedoch dürfen wir nicht nur die gesundheitlichen Schäden betrachten. Der Virus wird auch nicht bei einer Durchseuchung von 70 % der Bevölkerung halt machen. Es ist also fast unmöglich den Virus nicht zu bekommen und der erste Lockdown hat dazu geführt, dass wir Kurzarbeit im Gesundheitssystem haben. Wir in der Politik müssen auch die wirtschaftlichen Schäden betrachten. Das Gesundheitssystem muss auch in der Zukunft noch finanziert werden. Dies geht nicht in einem Lockdown. Auch müssen wir auf unsere sozialen Errungenschaften. Es gibt keine 100-prozentige Gerechtigkeit. Jeder sollte das Risiko für sich selbst einschätzen und kann auch selbst auf den Abstand achten.
nh24: Auch kursiert vielleicht eine Falschinformation? Viele tun immer noch so, als könne man das Virus besiegen. Tatsächlich aber, wird es uns dann nur länger beschäftigen?
Engin Eroglu: So ist es. Wir haben nur immer gesagt, dass wir sie nicht alle gleichzeitig im Krankenhaus haben wollen.
nh24: Was kann Politik daraus jetzt Schlüsse ziehen?
Mehr Mittel im Land verfügbar haben – Kliniken gehören nicht privatisiert
Engin Eroglu: Politik ist ja lernfähig. Das haben wir auch in der Finanzkrise erlebt. Jetzt sind wir in einer Wirtschaftskrise ausgelöst durch eine Naturkatastrophe – COVID 19. Aus der Finanzkrise haben wir gelernt, dass Kurzarbeitergeld, Arbeitsplätze erhält. Durch COVID haben wir gelernt, dass wir wichtige Produckte aus dem Gesundheitssystem wieder in Deutschland herstellen müssen. Die BRD hat Verantwortung für ihre Bürger. Wenn es brennt, dann möchte ich den besten Feuerwehrwagen nicht in Frankfurt haben, sondern auch vor Ort. Wir brauchen also funktionierende, regionale Systeme. Brüssel brauchen wir bei solchen Katastrophen als Wissensvermittler. Aus den Fehlern der anderen lernen und an seine Mitglieder weitergeben, damit diese die Fehler nicht wiederholen.
nh24: Wie einig oder uneinig erleben Sie die EU derzeit, man geht sehr unterschiedlich mit der aktuellen Situation um?
Engin Eroglu: Sehr unterschiedlich! Die Europäische Union und die Kommission waren ja auch in einer Schockstarre. Jedoch muss die EU auch nicht für alles zuständig sein. Funktionierende regionale Systeme vor Ort sind immer besser für die Bürger. Was wir definitiv in Brüssel brauchen, das ist eine Stelle, die es auch gibt, die die Informationen jetzt verarbeitet, also alles, was gut war bündeln und den Nationen Empfehlungen aussprechen. Ein Virus kennt schließlich keine Grenzen. Am Ende kann jede Nation selbst entscheiden, ob sie so ein Gesundheitssystem aufbauen wollen, wie wir es in Deutschland haben.
nh24: Sie sind auch Kommunalpolitiker. Es wird nicht nur in Europa unterschiedlich verfahren, sondern auch innerhalb Deutschlands. Ist das das Modell Europa der Regionen ist das so in Ordnung?
Dezentrales handeln ist wichtig, auch wenn es meine Ordnungsliebe widerspricht
Engin Eroglu: Ich bin von Natur aus sehr organisiert und strukturiert und deshalb regt mich diese unterschiedliche Vorgehensweise persönlich auf! Als Europaabgeordneter, der viel reisen muss, nervt das auch. Aber es ist die absolut richtige Entscheidung, das Virus, wo wir es jetzt so gut eingedämmt haben, sofort dort bekämpfen, wo es auftritt. Wenn der Virus in einem Landkreis in Hessen auftritt, müssen wir den „zumachen“ und nicht auch Landkreise mit Null Fällen. Eine lokale Begrenzung verhindert auch die wirtschaftlichen und sozialen Schäden.
nh24: Wir greifen ja stark in Freiheitsrechte ein. Erste Gerichte – das Thema hatten wir vorhin schon – fangen ja auch an, entsprechende Urteile zu sprechen und die Freien Wähler haben den Begriff Freiheit in Parteinamen. Da muss einen die Freiheitseinschränkung doch noch mehr wurmen?
Engin Eroglu: Das hat mich sehr gewurmt! Man hat uns genauso eingeschränkt, wie in Ländern, die nicht so gut ausgestattet sind und deshalb freut mich auch, dass Richter das für politische Willkür gehalten haben. Wenn man mich fragt, ob Volksfeste verboten werden müssen, dann sage ich ja! Aber zu sagen, du darfst nicht rausgehen, nein!
nh24: Die Menschen verstehen viel, wenn es klärt wird und sie eine Perspektive haben?
Engin Eroglu: Ja, wir sollten jetzt nur die Politiker nicht für ihre Entscheidungen kritisieren. Vielmehr geht es jetzt um die kommenden Entscheidungen, die mit mehr Informationen getroffen werden. Außerdem möchte ich auch nicht Statistiken im Schnellverfahren vergleichen. Wenn in Schweden jetzt geringfügig mehr Menschen sterben, heißt es auch nicht, dass es dort falsch gemacht wird. Das können wir erst am Ende feststellen.
nh24: Vollständigkeitshalber müssten wir auch sagen, dass Schweden bei 11 Millionen Einwohnern nur über 500 Intensivplätze verfügt und eigentlich gar keine andere Chance hatte?
Engin Eroglu: Ja, aber jetzt stellen Sie sich das schwedische Modell in unserem Gesundheitssystem und den vielen privaten Rehakliniken vor…
nh24: Wie geht es in Europa weiter?
Die Wirtschaftskrise ist völlig anders als die Finanzkrise
Engin Eroglu: Wie gesagt, bei Corona sollte Europa keine Zuständigkeit haben, das ist föderal besser zu lösen. Jetzt brauchen wir Geld, um eine Wirtschaftskrise einzudämmen. Was würde denn passieren, wenn das Virus mutiert und im schlimmsten Fall sogar unheilbar wird wie HIV? Wollen wir dann die Nationalstaaten auflösen? Hilft bei einem Virus auch nicht weiter.
nh24: ist die Wirtschaftskrise nicht schon da?
Engin Eroglu: Das ist sie und viel schlimmer als die Finanzkrise. Damals hat „A“ „B“ nicht vertraut. Jetzt haben wir einen Konsumverlust. Es ist Irrsinn, wie das System kaputt geht, wenn sechs Wochen lang nichts konsumiert/produziert wird. Solche Schäden nach einer solch kurzen Zeit hätte ich nicht für möglich gehalten. An der Finanzkrise war China im Grunde „nicht“ beteiligt. Dort hatten wir in 2008/2009 einen externen Motor für die Weltwirtschaft. Nun sieht es jedoch auch in China nicht positiv aus. Die damalige Lösung den Markt mit Geld zu fluten wird diesmal nicht funktionieren. Daher muss schnell die Wirtschaft und der Konsum wieder hochgefahren werden. Im Anschluss muss auch hier aus dieser Krise gelernt werden.
nh24: Sind diskutierte Kaufanreize, also Zuschüsse, die nur dann fließen, wenn gekauft wird, dann der richtige Weg?
Franzosen und Italiener sind tatsächlich reicher als Deutsche
Engin Eroglu:
Das ist spannend! Ich glaube nicht, denn die Menschen haben ja Geld, sie geben es nur deshalb nicht aus, weil sie Angst vor der Zukunft haben. Wenn Menschen Angst um ihren Arbeitsplatz haben, sparen Sie das Geld lieber. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu viel für andere Länder verschulden. Alle rufen nach Geld, dass wir zahlen sollen. Wir brauchen das Geld auch im die Wirtschaft in Deutschland wieder auf- und umzubauen. Das Pro Kopf-Vermögen liegt in Deutschland bei etwa 200.000 €, in Frankreich bei 255.000 € und in Italien bei 216.000 €. Aber der deutsche Steuerzahler soll die verschuldeten Länder finanzieren? Der französische und der italienische Staat sind vielleicht pleite, aber die italienischen und französischen Bürger sind reicher als die deutschen. Und dann sollen wir dafür Schulden aufnehmen, um marode Staaten zu stützen?
nh24: also keine Euro-Bonds?
Engin Eroglu: Nein! Da war ich schon immer dagegen aber die kommen jetzt zum Glück auch nicht mehr. Die Niederländer haben uns an dieser Stelle gerettet, während CDU, FDP und SPD für Anleihen gestimmt haben. Ich bin aber gespannt, wie jetzt Geld nach Italien fließen soll, wenn klar ist, dass die italienischen Bürger statistisch gesehen wohlhabender sind als andere. Ich mache jedenfalls nie wieder einen Witz über Holländer!
nh24: Herr Eroglu, vielen Dank für das Gespräch! (rs)
Soweit die gekürzte Version des Interviews. Das vollständige Gespräch zwischen Engin Eroglu und Rainer Sander können Sie hier hören: