SCHWALMSTADT. „Wir sind 100 Prozent im Kontakt mit den Kindern. Das geht gar nicht anders. Gerade in diesen Zeiten müssen Kinder in den Arm genommen werden“, sagt Sozialpädagogin Diakonin Irmhild Romeike. Die 32-Jährige ist Gruppenleiterin einer Kinderwohngruppe der Hephata-Jugendhilfe in Schwalmstadt-Treysa.
Die vergangenen 14 Tage hat Irmhild Romeike mit drei Kolleginnen am Stück gearbeitet. Sie sind das Team A. Ab dieser Woche ist Team B an der Reihe. „An dem Freitag vor zwei Wochen, als die Schließung der Schulen bekannt gegeben wurde, haben wir innerhalb von 24 Stunden alle Dienstpläne neu geschrieben.“ Um das Risiko für eine Ansteckung der Mitarbeitenden der Wohngruppe untereinander zu minimieren und damit die Betreuung der Kinder weiterhin so gut wie möglich sicher zu stellen, finden keine Teamsitzungen mehr statt und teilen sich die Kollegen auf. Die Teams decken jeweils zwei Schichten und die Nachtbereitschaft ab. „Ich habe in den vergangenen zwei Wochen neun Nächte in der Wohngruppe geschlafen“, sagt Romeike.
In der Wohngruppe leben derzeit fünf Kinder zwischen sieben und zehn Jahren. Kinder, die nicht in ihren Familien leben können, weil sie eine besondere Förderung und Unterstützung brauchen, weil die Eltern bei der Erziehung überfordert oder selbst beeinträchtigt sind, weil es zu Gewalt oder Missbrauch in der Familie kam. „Gerade für diese Kinder muss die Struktur weitergehen, sind Zuverlässigkeit und Sicherheit ganz wichtig“, weiß Romeike. Das ist schwer, denn viele Strukturen sind derzeit nicht verfügbar. Die Schule und Freizeitaktivitäten fallen aus, der Besuch am Wochenende von den Eltern auch und der für Ostern geplante Urlaub in Berlin ist abgesagt. Das Leben spielt sich im und um das Haus im Horschmühlenweg ab. „Wir haben ein großes Gelände und erleben das gerade als Luxus“, sagt Romeike.
Jeden Morgen gehen die Pädagogen und Erzieher mit den Kindern raus, danach steht die Hausbeschulung auf dem Plan, anschließend wird zusammen Mittagessen gekocht und dann der Nachmittag wenn möglich an der frischen Luft verbracht. Aus einem alten Regal und Holzplatten haben die Kinder und ihre Betreuer zusammeneine Spielküche und einen Einkaufsladen gebaut. Nudeln und Spiegeleier entstanden aus Stoff an der Nähmaschine. In den nächsten Wochen sollen noch eine Spiel-Mikrowelle und ein Herd hinzukommen. Ein weiteres Projekt ist eine Ausmaltischdecke und zu Ostern wollen die Kinder Päckchen an die Familie oder Freunde schicken. „Die Zeit ist auch wertvoll. Es ist eine entschleunigte Zeit. Die Kinder erleben sich gerade in dieser Zeit als Gruppe, die zusammen hält und gemeinsam spielt, das Thema auf ihre Weise verarbeitet.“
So wurden in den Kettcar-Parcours mit Kreide auch Krankenhäuser gemalt. Die Kinder nahmen sich zudem vor, vorsichtig zu fahren, damit keiner ins Krankenhaus muss und sich die Ärzte dort in Ruhe um Corona-Kranke kümmern können. Das Gästebad der Wohngruppe wurde umfunktioniert zum Händewasch-Bad, wenn die Kinder von draußen reinkommen. Die Nießetikette trägt hier den Namen „Nießelephant“, damit die Kinder Spaß daran haben, in die Ellenbeuge zu nießen.
„Es ist eine herausfordernde Zeit. Besonders ein Mädchen hat am Anfang viel geweint. Einige Mitarbeitende gelten als Risikopatienten und fallen nun ebenfalls als Bezugspersonen für die Kinder weg, auch das löst Ängste aus. Eine Kollegin hat den Kindern einen Brief geschrieben und erklärt, warum sie nicht kommen kann. Sie bleibt mit den Kindern jetzt digital in Kontakt“, sagt Irmhild Romeike. Überhaupt ist Kontakt ein wichtiges Stichwort. „Wir betreuen Kinder, die sehr jung sind. Die psychische Gesundheit ist gerade in dieser Zeit sehr zu schützen. Auch, wenn es ein gewisses Risiko birgt, ist es wichtig, gemeinsam auf dem Sofa zu liegen und die Kinder weiterhin in den Arm zu nehmen und zu trösten. Dabei tragen wir erstmal keinen Mundschutz, um den Kindern nicht noch mehr Angst zu machen. Wir sind ein sehr junges Team. Für uns war klar, dass wir das so machen wollen.“
Bislang gibt es keinen Corona-Verdachtsfall in der Wohngruppe. „Sollte es dazu kommen, gehen wir davon aus, dass die gesamte Wohngruppe unter Quarantäne gestellt würde. Die Mitarbeitenden müssten dann nicht 14 Tage im Dienst bleiben, sondern hätten wahrscheinlich zwei Quarantänestandorte – die Wohngruppe und ihr Zuhause“, so Romeike.
Ab dieser Woche hilft eine Kollegin aus der Hephata-Kindertagesstätte in der Wohngruppe aus. In der Kita findet derzeit ausschließlich eine Notbetreuung statt. Einige Kolleginnen helfen in anderen Bereichen aus. „Das ist auch das Positive an dieser Zeit. Wir können alle gegenseitig den Hut voreinander ziehen. Diese Zeit lebt von der intensiven Beziehungsarbeit mit den Kindern, deren Vertrauen und dem großen Einsatz eines jeden Mitarbeiters. Und wenn die Kinder lachen, lacht das eigene Herz gleich mit.“
Die Hephata-Jugendhilfe ist an 31 Standorten in Hessen und Rheinland-Pfalz vertreten. Sie unterstützt Kinder und Jugendliche bei der Schul- und Ausbildung und gibt Hilfe zur Erziehung in Familien oder Wohngruppen. Im vergangenen Jahr unterstützte die Jugendhilfe 1295 Kinder und Jugendliche, davon waren 427 unbegleitete minderjährige Ausländer. In stationären Wohngruppen betreute die Jugendhilfe im vergangenen Jahr 320 Kinder und Jugendliche. (pm)