FRIELENDORF. Heute ist Sonntag, der letzte im März, und zum ersten Mal ist die Sommerzeit nach der Umstellung nicht das beherrschende Thema. In manchen Städten wäre heute, kurz vor Ostern, „Verkaufsoffener Sonntag“ gewesen. Ist es auch, aber nur in den Online-Shops. Die erleben ungeahnte Zuwächse. Selbst bei Amazon sind bestimmte Produkte ausverkauft. Webcams zum Beispiel, um PCs Skype- beziehungsweise Videokonferenz-tauglich zu machen…
Wir denken um und wir sind enorm flexibel. Schon nach 4 Wochen werden wir uns an manches gewöhnt haben, nach 2 Monaten fällt die Rückkehr zur alten Normalität vielleicht bereits enorm schwer und spätestens nach 3 Monaten wird die normative Kraft des Faktischen auch unser Einkaufsverhalten nachhaltig verändert haben. In 2 oder 3 Monaten werden wir schließlich auch den einen oder anderen Laden nicht mehr antreffen, so manche Gaststätte wird ihre Pforten für immer geschlossen haben und viele Freizeit- und Kulturangebote sind dann vom Markt verschwunden.
Mehr Wahrheiten als uns lieb wäre?
Im Netz blüht längst der Hass, jetzt nicht mehr gegen oder für Migranten, sondern gegen oder für Reiche, Arme, Kranke, Ängstliche, Mutige, Tapfere oder Demütige. Zum ersten Mal erleben wir, dass Solidarität allein nicht ausreicht und dass Wahrheiten so vielseitig sind, wie wir nie geahnt hätten. Gerade wird auf Twitter die Firma Deichmann niedergeschrieben, weil sie – wie jeder andere Einzelhändler – gerade für ihre Filialen keine Miete mehr zahlen möchten. 6,8 Milliarden Euro betrage das Vermögen. Die Firma wird nicht arm sein, aber dieser Betrag ist nicht auf einem Konto, sondern der Wert des Unternehmens in guten Zeiten, also der Wert des Inventars, eigener Immobilien, Geldanlagen und vor allem des Warenbestandes. Wenn eine ganze Kollektion Schuhe nicht verkauft werden kann und angelegtes Geld nach einer Weltwirtschaftskrise weniger wert ist, dann bleibt von diesem Vermögen nicht viel übrig.
Bei aller Liebe zum Klima, bei aller Liebe zur Gesundheit und Fürsorge für die Risikogruppen: wir sind auch modebewusst und werden im Winter keine Sommerschuhe kaufen und im nächsten Jahr nicht die liegengebliebene Kollektion aus diesem Jahr. Weder bei Schuhen, noch bei Hosen, Röcken, Jacken, Blusen oder Hemden. Aber der Staat verspricht gerade jedem zu helfen. Das wird Herrn Deichmann auch freuen und viele andere auch, die wenigstens Sachanlagen als theoretische Sicherheit besitzen.
Bei allem was wir tun und bei allem, was wir jetzt bejubeln oder verteufeln: Es ist mit staatlichen Mitteln allerdings nicht möglich, alles und jeden zu retten. Die Bundesregierung und die Landesregierung versprechen, auch den kleinen Einzelhändlern zu helfen. Wegen ausstehender Mieten darf nicht gekündigt werden, Strom darf nicht abgeschaltet werden und Steuervorauszahlungen dürfen zurückgehalten werden. Aber es muss irgendwann dann doch bezahlt werden. Bei Krediten bürgt die bundeseigene Bank KfW, bezeichnenderweise „Kreditanstalt für Wiederaufbau“ (das könnte die zukünftige Bedeutung sein) im Hintergrund. Aber sie tut das eben nicht zu 100 Prozent und nur im Falle, dass etwas schiefgeht.
Bonität bleibt das Maß aller Dinge
Betrachten wir statt Deichmann doch mal den kleinen Schuhhändler in Schwalmstadt, Baunatal oder Borken. Die Kreditvergabe erfolgt über die Hausbank und die muss erst einmal die Bonität prüfen, und zwar genau so, als gäbe es diese Bürgschaft gar nicht. Nach dem Insolvenzrecht darf ein Unternehmer überhaupt keine Kredite aufnehmen, die er im Rahmen seiner Wirtschaftskraft nicht zurückzahlen kann. Kurz gesagt: eine Bürgschaft, die erst dann gilt, wenn ein Unternehmen insolvent ist, darf gar kein Unternehmer einplanen, weil das tatsächlich Insolvenzverschleppung wäre.
Das heißt nichts anderes, als dass auch diese Darlehen vor allem Unternehmen bekommen, denen es nur mittelmäßig schlecht geht, die es im Grunde auch so über die Krise schaffen würden. Wem es richtig schlecht geht, der darf sich bei dann drohender Pleite gar nicht so weit verschulden, dass er die Raten nicht bedienen kann, weil er sich sonst strafbar machen würde und wer wird dieses Risiko eingehen?
Wir geben nach der Krise nicht mehr aus…
Der jetzt entgangene Umsatz kann nicht aufgeholt werden und eine komplette Kollektion im Nachhinein oder die anstehende nächste Kollektion für Sommer oder Herbst können nicht auf Pump finanziert werden. Wir kaufen die alten Sachen nicht irgendwann aus Gründen der Solidarität doch noch und werden in drei Monaten schließlich auch nicht doppelt so oft essen gehen, nicht doppelt so oft ins Kino gehen, nicht doppelt zu viele Konzerte besuchen und auch nicht doppelt so viele Bücher lesen. Und jetzt, wenn wir selber weniger verdienen, mit Kurzarbeit leben müssen und am Ende Angst um unseren Job und unsere Firma haben müssen, werden wir die vielen netten Angebote des Lieferservice von Pizza über Baumarktartikel oder sogar Turnschuhe, kaum annehmen. Wenn wir zudem nicht raus dürfen, oder wenn, dann nur allein, müssen wir auch nicht aktuell modisch aussehen.
Also, die meisten Hilfspakete, die jetzt geschnürt werden, sind Kredite, die kaum jemand in Anspruch nehmen kann und die meisten vermutlich gar nicht dürfen. Ganzen Branchen würde nur helfen, wenn der Staat jetzt die Umsatzausfälle, nicht nur die entgangenen Gewinne finanzieren würde. Dafür reicht eine einfache Dreisatzrechnung, um zu begreifen, dass dies noch nicht einmal für einen Monat vorstellbar wäre. 50 Milliarden Euro setzen Einzelhandel und Gastronomie zusammen jeden Monat um, rund 15 Prozent eines Bundeshaushaltes, aber Dienstleistung, Handwerk und Industrie sind auch betroffen. Jeder Vermieter bekommt Probleme, wenn Mieten nicht gezahlt werden, selbst Kliniken und Arztpraxen geraten in Schwierigkeiten, wenn gerade eingeplante Behandlungen nicht stattfinden.
Regeln – Statistiken – Realitäten
Damit sind wir schon wieder dabei, eine ethische Abwägung zu treffen. Auch wenn es (noch) niemand so deutlich sagt, wir rechnen zerstörte Existenzen auf gegen mögliche Todesfälle bei einer unbegrenzten Corona-Epidemie. Und weil das niemand wirklich entscheiden möchte, klammern sich nun allesamt an wissenschaftliche Prognosen und Regeln, die für Epidemien irgendwann einmal aufgestellt wurden. Es traut sich niemand mehr zu sagen, dass jedes Jahr in der Grippeepidemie bis zu 25.000 Menschen (2017/2018) sterben und in dieser Grippesaison faktisch weit weniger Menschen an Grippe und Corona zusammen sterben werden, als durchschnittlich in den zurückliegenden Jahren, weil auch Viren sich gegenseitig Platz wegnehmen und die „normale“ Grippe fast nicht stattfindet. Italienische und griechische Kliniken mit ihren schon immer – für unsere Verhältnisse – katastrophalen hygienischen Verhältnissen sind definitiv nicht der Maßstab für das, was hier noch kommen könnte. Dort sterben im europäischen Vergleich auch die meisten Menschen an Krankenhauskeimen, worüber niemand spricht.
Es ist wichtig, an jedes Menschenleben zu denken und Vorsorge zu treffen, dass jeder Mensch eine Chance hat mit dem Leben davonzukommen. Was nicht funktioniert, ist immer für jeden und für alle gleichermaßen da zu sein. Mit jeder Entscheidung für etwas treffen wir auch eine Entscheidung gegen etwas. Wenn diese einfache Logik im Bewusstsein bleibt oder dorthin zurückkehrt, wird es möglich sein, angemessene Entscheidungen zu treffen, ohne diejenigen zu kritisieren, die im Moment keinen Plan haben können für etwas, das planbar war und ist. Es gibt nicht DIE Lösung, aber es darf auch jede Diskussion erlaubt sein, und zwar in jede Richtung…
Eines beruhigt: Die Zukunft findet so oder so statt und es ist immer die Zukunft, die wir daraus machen. In diesem Sinne einen schönen Sonntag!
Ihr
Rainer Sander