Corona: Besser kann man Egoismus kaum zeigen
SCHWALMSTADT. Gestern Abend hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Nation sehr eindrücklich hinsichtlich der Disziplin ermahnt und schon in ihrer letzten Ansprache verdeutlicht, dass jeder unnötige soziale Kontakt zu vermeiden sei. Gerade stattfindende Corona-Partys gefährden das aktuelle Maßnahmenpaket, das auf Fairness und Vertrauen aufbaut.
Am Ende, wenn keine Einsicht und Disziplin herrschen, droht der völlige Shutdown und womöglich eine Ausgangssperre. Es scheint fast so, dass ein Schwalmstädter Baumarkt für sein wiederzueröffnendes Gartencenter genau das im Sinn hat: einmal richtig für Aufmerksamkeit sorgen und dann über die Schließung in der gesamten Branche schmunzeln? Wenn nicht, hätte man über die heutige Werbung vielleicht eine Nacht länger schlafen sollen…
Wenn Medien dann das Spiel mitmachen, einerseits kritisch hinterfragen, ob die staatlichen Maßnahmen überhaupt reichen, nicht schon zu spät kommen und andererseits, wenn der Anzeigenpreis stimmt, Werbung für eine Neueröffnung mitten in der Krise veröffentlichen, dann passt alles zusammen! Heute eröffnet in Schwalmstadt das Gartencenter von Hagebau und hat genau das entsprechend angekündigt, damit möglichst viel Menschen am heutigen Tag zusammenkommen unter dem Motto: „Schwalmstadt dreht durch!“ Die Dramaturgie hätte nicht besser sein können, genau über dem Bild und dem Aufruf von Angela Merkel.
Bürgermeister Stefan Pinhard reagiert mit offenem Brief
Schwalmstadt dreht durch? Das stimmt! Erst einmal dreht aber Schwalmstadts Bürgermeister Stefan Pinhard durch. Dem geht das definitiv zu weit. In einem Offenen Brief äußert er sich zur, nach seinen Worten, „völlig kontraproduktiven und inakzeptablen Werbung in Verbindung mit der Titelseiten-Gestaltung der heutigen Ausgabe“ einer Tageszeitung in der Schwalm:
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Lektüre der heutigen Ausgabe der Tageszeitung (…) hat uns zutiefst irritiert. Am Folgetag der denkwürdigen Fernseh-Ansprache durch Angela Merkel, ziert das Konterfei der Bundeskanzlerin die Titelseite derjenigen Zeitung, die in Hessen und Niedersachsen mit einer verkauften Auflage von rund 176.000 Exemplaren täglich erscheint.
Dieselbe Titelseite ist in der Lokalausgabe (…) mit einem werbewirksamen Aufkleber versehen. Darauf lädt der Hagebaumarkt in Schwalmstadt mit den Worten ,,Schwalmstadt dreht durch“ für die heutige Neueröffnung nach Umbau seines Gartencenters ein. Die Mitarbeiter unserer Stadtverwaltung wurden und werden zuhauf auf diese – auch aus unserer Sicht – unverschämte und ignorante Werbemaßnahme angesprochen und zu ihrer Sinnhaftigkeit befragt.
Kanzlerin Merkel sendete per gestriger Fernseh-Ansprache eine unmissverständliche Botschaft an die Gesellschaft. Sie appellierte an die Disziplin jedes einzelnen zur Einschränkung der Sozialkontakte. Dadurch soll die Ausbreitung des Coronavirus entschleunigt werden. Es komme in der Corona-Krise auf jeden Einzelnen an. Den Unternehmen sicherte sie in dieser aus wirtschaftlicher Sicht äußerst beunruhigenden Zeit ihre Unterstützung zu.
Wir können deshalb nicht nachvollziehen, wie es Verantwortliche von (…) und Hagebaumarkt versäumen konnten, diese völlig kontraproduktive und deshalb inakzeptable Art der Werbung rechtzeitig zu unterbinden.
„Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“, hatte die Bundeskanzlerin gestern unmissverständlich angeordnet. Wie wir nur wenige Stunden nach ihrer eindringlichen Rede feststellen müssen, wird dieser Aufforderung hier und heute nicht entsprochen.
Wir nehmen dies zum Anlass, unserer Empörung deutlich Ausdruck zu verleihen. Aus unserer Sicht hätten die Verantwortlichen von (…) und Hagebaumarkt – insbesondere in dieser Krise ihr verantwortungsbewusstes Handeln über jeden Umstand von Marketingstrategien und wirtschaftlichen Interessen stellen müssen.
Diesen offenen Brief erhalten die Chefredaktion der (…), die Geschäftsleitung der (…), die Geschäftsführung und der Aufsichtsrat der Hagebau-Gruppe sowie der Landrat und der Erste Kreisbeigeordnete des Schwalm-Eder-Kreises. Außerdem nehmen wir die Veröffentlichung dieses Briefs auf unserer städtischen Homepage und den sozialen Netzwerken der Stadt Schwalmstadt vor.
Diesem Brief ist eine Abfotografie der heutigen Ausgabe (…) angehängt.
Mit freundlichen Grüßen
Stefan Pinhardt
Bürgermeister
Gratulation an die Werbeagentur!
Der Werbeagentur, die diese Strategie entwickelt hat, kann man nur gratulieren! Besser kann man mit einem örtlichen Gartenmarkt vermutlich gar nicht bundesweit Aufmerksamkeit erzielen. Genau das wird nämlich heute noch passieren. Kein Satiriker hätte sich diesen Aufkleber über dem Konterfei der Bundeskanzlerin ausdenken können!
Nh24 hat den Namen der Zeitung jeweils unkenntlich gemacht. Wir haben lange überlegt, ob wir den „Offenen Brief“ des Bürgermeisters veröffentlichen, weil wir die journalistische Arbeit der Kollegen schätzen. Wir schätzen aber auch die Informationsverpflichtung der Medien, wenn etwas passiert, worauf ein Stadtoberhaupt, das sonst eher für seine Besonnenheit und Zurückhaltung kritisiert wird, sich auf diese – für ihn drastische – Art, zu Wort meldet. Und schließlich ist es wohl eher eine wirtschaftliche, als eine journalistische Problematik und darüber sollten sich die Leser aller Medien in Nordhessen Gedanken machen können.
Update (20.03.2030 – 06:31 Uhr): Der Hagebaumarkt hat nur 80 Besucher gleichzeitig in den Markt gelassen. Der Rest stand in langen Schlangen Schulter an Schulter wartend vor der Tür versammelt. (rs)
6 Kommentare
So so, der Baumarkt hat sich entschuldigt ?? (man kann um Entschuldigung bitten !!, entschuldigen müssen das die Betroffenen !!) weil die Werbung „nicht mehr zu stoppen“ war ? Lächerlich !! , ein Anruf des werbenden Kunden (Hagebau) bei der Zeitung und die vorbereiteten Flyer wären in das Altpapier gewandert, auch noch eine Stunde vor Druckbeginn der Zeitung !!
die werbung wurde schon wochen vor dem coronawahnsinn in auftrag gegeben und war leider nicht mehr zu stoppen.in der heutigen ausgabe der hna ist eine entschuldigung von hagebau abgedruckt.
aber die leute drehen ja trotzdem durch wegen dem coraon virus.es wird gekauft was das zeug hält und in ein paar wochen fliegt das ganze dann in die tonne.einfach nur noch asoziales verhalten.
@NH24: Woher hätte die Werbeagentur vor geraumer Zeit wissen sollen, das am Tag x ein Corona-Virus in diesem Maße ausbricht und dazu, das genau an dem Tag x auf der Titelseite die Kanzlerin zu diesem Thema erscheint ? Oder denken Sie, man hat sich das einen Tag zuvor ausgedacht, die Flyer drucken und liefern lassen, um sie dann exakt auf Seite eins zu platzieren. Ich finde es nicht in Ordnung, dem Baumarkt daraus einen Vorwurf zu machen. Der verbale „Amoklauf“ des BM überrascht hier nicht mehr, er passt ins Gesamtbild hinein.
Ich kann die Entrüstung von Bürgermeister Pinhard nur unterstützen. Schon alleine die Aufmachung der Einladung in der Tageszeitung direkt über dem Bild der Bundeskanzlerin bei ihrer Ansprache ist eine Verhöhnung der beschlossenen und bekanntgegebenen Maßnahmen gegen das Corona-Virus. „Schwalmstadt dreht durch“, Durchdrehen tun hier in erster Linie die Leitung des Hagebaumarktes und die offenbar vielen Besucher des Marktes am Tag der Neueröffnung, die einen aus Profitgier, die Besucher aus Gleichgültigkeit. Offenbar haben viele Menschen in Deutschland den Ernst der Pandemie immer noch nicht begriffen. Schaut nach Italien!!
Ich kann die Aufregung durch Herr Pinhardt in keinster Weiße nachvollziehen, so war er es doch, der am letzten Mittwoch noch im Hagebaumarkt seinen Einkauf getätigt hat!
Er sollte in seiner Funktion als gutes Beispiel voran gehen!
Generell kann ich AMSEL nur recht geben, das viele Leute den Erst der Lage noch nicht begriffen haben!
Wie sich jetzt alle anstellen wegen dieser Werbung.
Der Hagebaumarkt investiert tausende von Euros in den neuen Gartenbereich und jetzt wo das Ding nach einem halben Jahr öffnet, sollen die am besten keine Werbung machen. Das wäre doch dann mehr als blöd..
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