Linken-Politiker beim Evangelischen Forum in Gudensberg
GUDENSBERG. Das Evangelische Forum hatte ins Bürgerhaus nach Gudensberg eingeladen. Und rund 400 Gäste waren gefolgt, weit mehr als das Evangelische Forum erwartet hatte. Gregor Gysi, Politiker, Denker, manchmal Philosoph, Jurist und immer authentisch, vor allem aber redegewandt: das sind wichtige Markenzeichen.
Pfarrer Dierk Glitzenhirn, der das Evangelische Forum leitet, fügte noch einen Beruf hinzu: Rinderzüchter. Das, so Gysi, sei dem Ausbildungssystem in der DDR geschuldet, in dem am Ende einer Lehre auch das Abitur stand und zu einem Studium umgekehrt auch ein Berufsabschluss gehörte. Gysi sieht es praktisch. Cowboys sind weltweit gefragt und für einen Politiker sind solide Grundkenntnisse parat: Ich kann ausmisten, melken – also Steuern eintreiben – künstlich besamen und mit Hornochsen umgehen.
Udo Lindenberg oder Gregor Gysi?
Glitzenhirn, im Kirchenkreis Schwalm-Eder für die Bildungsarbeit zuständig, erzählte, dass seine Frau zurzeit zwei Autobiografien von alten Männern liest: die von Udo Lindenberg und die von Gregor Gysi…
Ob als letzter PDS Vorsitzender, als Fraktionsvorsitzender der LINKEN im Bundestag, als Vizebürgermeister in Berlin, als Oppositionsführer der 3. Merkel-Regierung oder als Dauergast in allen wichtigen Talkshows, Gysi ist immer ein „Sprachereignis“. Ermöglicht hat den Besuch Bundestagskollege Edgar Franke (SPD). Also einerseits eine parteiübergreifende und andererseits eine überparteiliche Aktion. Zwei Gesprächsteile waren vorgesehen, die am Ende ein wenig verschwammen. Während Edgar Franke im Rollentausch die religiösen Fragen stellte, war Dierk Glitzenhirn für die gesellschaftlichen Themen zuständig.
Jesus als kritischer Linker?
„Jesus wäre heute ein kritischer Linker“, mutmaßte Gysi „und mit Sicherheit nicht in einer christlichen Partei. Er glaubt nicht an Gott, fürchtet aber eine gottlose Gesellschaft. Ohne Bergpredigt, so der Berliner, gäbe es keine Werte und Weihnachten ist als Ritual und für den Zusammenhalt der Gesellschaft wichtig. Judentum und Islam haben kein Neues Testament, damit erklärt er wesentliche Nachteile anderer Religionen. Denn gerade das sei genial, weil es die Dialektik zulässt und Altes infrage stellt.
Untaten der Kirche hat es aber auch gegeben, entscheidend ist, dass der Grundgedanke ok ist. Wie bei der Linken, die auch schlimme Verbrechen zu verantworten hat und bei der der Grundgedanke stimmt. Warum nur in Tschechien und Ostdeutschland nach Überwindung des Staatssozialismus keine Rückkehr zur Kirche erfolgt, kann er auch nicht erklären.
Selbstkritisch
Gysi gehört zu denen, die auch in der eigenen Partei nicht mit Kritik sparen. Der Grund? „Wenn man unehrlich zu sich selbst ist, ist man auch zu anderen unehrlich! Was ich an den Linken nicht mag, ist, dass sie immer so auftreten, als wüssten sie alles besser. Die Linke muss die wirtschaftlichen Zusammenhänge verstehen, sonst ist sie für viele nicht wählbar“, erkennt er und: „Statt Mauern zu bauen, müssen wir Probleme lösen“. Im Grunde wäre das ganz einfach: „Wir brauchen eine Denkfabrik von CDU über SPD zur Linken unter Einschluss von Gewerkschaften und Kirchen! Das“, so der Senior, dem man die Jahre nicht ansieht, „geht aber nur in meinem Alter, nur mit anderen meines Alters und ist das nicht möglich…“
Opposition ist leichter, erklärt er ehrlich, aber die Opposition ist dafür da, den Zeitgeist zu verändern und um neue Gedanken zu setzen. Dabei dürfe man sie nicht unterschätzen. Politik müsse insgesamt glaubhafter werden. Wer Missachtung der Menschenrechte beklagt, muss das überall gleichermaßen tun und nicht irgendwo mehr und irgendwo weniger. Wir können auch nicht die Bundeswehr irgendwo hinschicken und woanders die Augen verschließen.
Es muss sich nicht alles rechnen!
Natürlich geht es nicht ohne Sozial-Politik: Es müsse sich nicht alles rechnen, weder Busse und Bahnen noch Krankenhäuser, weil das öffentliche Daseinsvorsorge ist. Für solche Positionen kennt man ihn und: „Wenn wir jetzt Schulden machen würden für mehr Bildung, bekämen wir noch was dazu. Aber ich kann den Scholz nicht überzeugen…“ Zu Edgar Franke gewandt: „Haben Sie es schon mal versucht?“ Er macht sich Gedanken darüber, wie man Bundestagswahlen attraktiver gestalten kann. Ganz einfach: „Jede Partei stellt eine Frage, die mit ja oder nein beantwortet werden kann. Wenn die Bürger die Fragen beantworten, können sie nebenbei auch den Bundestag wählen…“
Schnell ist er auch bei der europäischen Frage und der Globalisierung. Soziale Fragen waren früher nationale Fragen. Durch die Globalisierung hat sich niemand darauf vorbereitet, dass auch das eine globale Frage der Menschheit geworden ist, die noch dazu zu schnell wächst. Armut erzeuge immer viele Kinder. Menschen, die besitzen, teilen indes weniger. Geschlechtergleichheit einschließlich Karriere würde Geburten begrenzen. Die Gleichstellung und die Überwindung der Armut würden also alle wesentlichen Gegenwarts-Probleme lösen?
Ohne Europa geht es nicht
Und er steht zur EU: Wenn China die Nummer eins wird, die USA wenigstens die Nummer zwei bleiben und Russland die Nummer drei wird, was sollen Liechtenstein und vielleicht auch die Bundesrepublik dann noch zu melden haben? Aber Großmächte gehen immer irgendwann kaputt. Das war auch in Griechenland und in Rom so.
Wir denken zu schnell an Verbote, verrät Gysi. Entscheidender wäre die Frage, wie erlaube ich etwas und verhindere trotzdem, dass etwas Schlimmes passiert. Die Lösung statt Hartz 4 Sanktionen? Boni! Die kennen wir nur aus Konzernen. Hier wären sie angebracht.
Die DDR ein Unrechtsstaat?
Der Hesse Fritz Bauer habe den Begriff Unrechtsstaat geprägt und damit nur den Nationalsozialismus gemeint. Gysis Eltern waren im Widerstand gegen Hitler, und haben dabei ihr Leben riskiert und anschließend die DDR aufgebaut. „Ihnen kann ich keinen Unrechtsstaat, wie den NS-Staat vorwerfen!“ Wenn in der DDR die westlichen Besatzungsmächte gewesen wären, wären die Ossis heute wie die Wessis und wären im Westen die Sowjets gewesen, wären die Wessis heute wie die Ossis. Da ist sicherlich was dran… (rs)