Rock zwischen den Jahren in Fritzlar
FRITZLAR. Too Old to Rock ’n’ Roll: Too Young to Die. Auf diesem Jethro Tull-Konzeptalbum aus dem Jahr 1976 gewinnt der alternde und verarmte Rockstar „Ray Lomas“ zuerst eine Waschmaschine und dann – nach einem Unfall – seine Jugend zurück und wird doch noch einmal Popstar.
The same procedure as every year…
Das wird auch nach dem 15. Best of 70th & 80th Festival in Fritzlar zwischen den Jahren für die nordhessischen Rockstars aus Fritzlar, Borken, Bad Wildungen, Kassel oder vielleicht Wabern ein Traum bleiben, wenn sie ihn denn überhaupt träumen… Aber so ist Rock’n’Roll! Ein Traum war es für die Besucher, die sich üblicher Weise ein Jahr lang auf diesen Termin freuen. Wie immer war die Stadthalle Fritzlar auch am 28. Dezember 2019 ausverkauft, wie immer spielten fünf Bands und egal, was zwischen acht und zwölf passiert, gegen Mitternacht kommt die Steven Stealer Band und um 1 Uhr stehen noch einmal alle Musiker auf der Bühne und singen gemeinsam Sweet Home Alabama und Knocking On Heavens Door… The same procedure as every year…
Bis dahin allerdings ist ein wenig Spannung vorhanden. Ein bis zwei neue Bands werden jedes Jahr von Walter Mayer und Kalle Paltinat, die beiden Veranstalter, in das Programm eingebaut. Das Konzept indes bleibt. Die Rock-Musik der 70er und 80er steht im Mittelpunkt, ein wenig 60er und natürlich inzwischen 90er und 2000er darf es bitte auch sein, das hätten die Band aus dieser Zeit heute auch gespielt oder tun es, wenn sie – wie die Rolling Stones – heute noch auf der Bühne stehen. „It’s only Rock’n’Roll…
Es kommt darauf an, was man daraus macht!
… but I like it“ singt Mike Jagger heute noch. Ein Satz, der Symbol ist für den Stil. Es bedarf keiner großen Voraussetzungen, zur Not reichen drei Akkorde, fast immer ein 4/4-, manchmal ein 8/8-Takt und im Grunde ein einfacher Marsch-Rhythmus, wobei der Off-Beat für „Bewegungsdrang“ sorgt. Es macht Spaß und es bereitet Freude. Entscheidend ist, was man daraus macht und die alten Helden der Supergroups, des Symphonic-Rock, des Progressive Rock, des Folk-Rock, des Hard- und Soft-Rock und sogar des Glam-Rock haben eine ganze Menge daraus gemacht.
Nicht nur die heutigen Bands nennen Vorbilder aus der Zeit von Woodstock und der beiden Jahrzehnte danach. Auch die vielen Cover-Bands überall im Land, haben als Herzstücke meist die Klassiker im Programm. So nimmt das Durchschnittsalter der Musiker auf der Bühne von Nordhessens beständigstem und nachgefragtestem Indoor-Festival auch nicht zu. Zu den „Alten Helden“, die vor 15 Jahren dort zum ersten Mal die Drums geschlagen, die Bassläufe gespielt und die Akkorde geschrubbt haben, um die Zeit des Aufbruchs in der Rockmusik zurückzuholen, haben sich längst ein und sogar zwei jüngere Generationen gesellt. Kalle Paltinat steht mit seinen Söhnen auf derselben Bühne, auf der in den 70ern Bands wie Colosseum II, Eloy oder Grobschnitt gespielt haben.
Altes Haus, neuer Glanz
Dabei wirkt die schlecht belüftete Fritzlarer Stadthalle noch viel älter als die Musik. Vermutlich geht das auch nirgends anders. Frischen Wind brachten gleich zu Beginn „Pink Inside“, eine neue nordhessische Band, die nur eins macht, aber das richtig: Pink Floyd covern. Da muss man sich erst mal rantrauen. Jan Steiger (git.), Dirk Menne (bg.), Frank Wimmel (kb.), Stefan Metz (sax.), Tobias Schopf (dr.) und Marcus Brauer (voc./git.) tun das. Und sie machen es gut, mit Gefühl, Können und dem Schuss Originaltreue, den man erwartet bei Pink Floyd. Wish You were Here, Another Brick in The Wall, Comfortably Numb oder Dirty Woman, für viel mehr ist nicht Zeit, aber das reicht. Gratulation zu dem jungen nordhessischen Projekt, von dem wir noch viel hören werden!
Zu Flash Bat in The Roof muss man nicht viel sagen, außer, dass sich die Band gefunden hat. Eine sichtlich gefestigte und selbstbewusste Kim Herrmann singt mit ihrer mächtigen Alt-Stimme, mit der auch Sachen gehen, mit denen sonst nur die männlichen Kollegen glänzen können, alles über den Haufen. Dazu eine Band, die sich auf alle Extravaganzen in den Interpretationen der Klassiker einlassen kann und einen eigenen Stil entwickelt. Ob „Chasing Cars“ (Snow Patrol) oder „Mighty Quinn“ (Manfred Man) , alles ist scheinbar möglich. „Go Your Own Way“ von Fleetwood Mac ist entsprechend symbolträchtig für den Stil und das Portfolio zwischen Pop und Rock, alt und neu.
Wow!
Dann kam mit der zweiten Newcomer-Band das Wow auf die Bühne. Mit Harald Tauber, der schon 1997 den Grafen von Krolock in Jim Steinmans „Tanz der Vampire“ in Wien gespielt hat, beim ersten Ensemble von „We Will Rock You“ in Köln auf der Bühne stand, noch bis 2015 bei Sister Act in Stuttgart und Oberhausen gesungen hat und heute das „TIC“ in Kassel bereichert und Jutta Jelinek sorgten zwei Stimmen bei „Legend“ für explosionsartige Ausbrüche auf der Bühne, die vermutlich niemand im Publikum erwartet hat. Dazu die die Gitarre von Harry Stingl („Sixty4our“, TIC u.a.) und die Keyboards von Kalle Paltinat, der – wie Paul Kersten von der Steven Stealer Band schon in den 70ern mit „Matze“ Reim bei Airway die Region mitgerissen hat.
Legend können sich an Stücke trauen, von denen man besser die Finger lässt, wenn einem außer der Akkordfolge nicht viel mehr einfällt, wie Solsbury Hill (Peter Gabriel) oder Purple Rain (Prince). Und das Bad Girls von Donna Summer kein Disco-Titel ist, bewiesen sie im Eiltempo. Sunday Bloody Sunday (U2), noch einmal Wow! Und auf ein Medley aus Let Me Entertain you, Locomotive Breath und Papa was a Rolling Stone muss man erst einmal kommen.
Wilde Nächte und solider Ausklang
Danach hatten es Wild Night zum ersten Mal richtig schwer aber Jens Walkenhorst, Mario Erdmann und Thomas Ellenberger sind routiniert genug, um ein Publikum einzufangen. Wenn der „Cover-Ableger“ von „Wild Frontier“ auf der Bühne steht ist Party! Video Killed the Radio Star, With Or Without you, I want It All oder I Was Made For Loving You, alles geht, alles reiß mit, immer unverkennbar Wild Night: „It‘s My Live“, die Hymne, die das erklärt…
Über die „Steven Stealer Band“ (SSB) muss man nicht mehr viel sagen. DIE nordhessische Cover-Band, die den Originalen am Nächsten ist, nicht bei den Vordergründigen Beats und Melodien hängen bleibt, sondern mit fast schon pedantischer Akribie die Zwischentöne erspürt, die die Seele vieler Titel erst ausmachen und trotzdem schafft, jedem Titel eine eigene Note zu verleihen, die SSB-Note. Gleich durchstarten mit „Whole Lotta Love“ und „Kashmir“ (Led Zeppelin), dazwischen das Glam Glam-Rock-Wagnis Love Is Like Oxygen (Sweet) und nach Deep Purple und anderen Highlights ausklingen mit „In The Air Tonight“ (Phil Collins), SSB können das.
The same procedure next year…
Es lag etwas in der Luft, wohl wahr und im nächsten Jahr wird’s wieder ausverkauft, Wetten, dass…? (Rainer Sander)