(aktualisiert 16.12.19/0:30 Uhr – jetzt auch mit Video/ Fotostrecke)
Ballad Of Crows auf dem Schwälmer Weihnachtsmarkt
SCHWALMSTADT-ZIEGENHAIN. Was macht jemand, der über 200 Karten für ein Konzert verkauft hat – die Zentrale Veranstaltung für den Schwälmer Weihnachtsmarkt – und zwei Tage vor dem Markt die Musiker wegen Krankheit absagen? Ganz einfach: Das Beste draus…
Als Gerhard Reidt, Organisator und Marktmeister des Schwälmer Weihnachtsmarktes, Donnerstagmittag den Telefonhörer aufgelegt hatte, war er ratlos. Der Sänger von Woodwind & Steel, die ihre Irish Christmas präsentieren wollten, hatte wegen einer Virusgrippe angegriffene Stimmbänder. Da tritt man nicht auf. Auch nicht auf dem größten nordhessischen Weihnachtsmarkt (nach Kassel). Mitten in der heißen Aufbauphase noch Zeit finden, um Ersatz zu organisieren? Kaum möglich?
Weihnachtsmarkt statt Hochzeit – Schottisch-Schwälmer Weihnachtsgeschichte
Der erste Anruf ging an Rainer Sander von nh24, der selbst zwei Bands managt: „Ich habe ein mittelschweres Problem.“ Damit kein schweres Problem draus wird, glühten dann die Drähte. Rainer Sander dachte sofort an den früheren Schwalmstädter Gitarristen Gereon Schopplick, der heute die Kulturarbeit in Bad Wildungen verantwortet und dort jedes Jahr das Irish Folk Festival organisiert. Der vermittelte an zwei Agenturen für Künstler mit keltischer Musik und eine davon telefonierte sofort bei ihren Künstlern rund, obwohl die Chefin selbst schon auf gepackten Koffern für den Urlaub saß und zwei Stunden später zum Flughafen wollte.
Fast zur gleichen Zeit bekam Steve Crawford, Sänger und Gitarrist der schottisch-deutschen Band Ballad of Crows, die gestern eigentlich auf einer Hochzeit spielen sollte, den Anruf, dass die Vermählung nicht stattfindet. Für irgendjemanden ziemlich sicher das schlimmere Schicksal als eine Stimmbandentzündung. Aber so fügte es sich, dass Steve kaum fassungslos den Hörer aufgelegt hatte, als das Telefon wieder klingelte und die Frage kam, ob sie stattdessen – ganz spontan – auf dem Schwälmer Weihnachtsmarkt spielen würden…
Die Ähnlichkeiten von Schwalm und Schottland
Das sind Geschichten, die man sich nicht ausdenken kann und die in keine Zeit besser passen, als die Adventszeit. Eine Band mit echten keltischen Wurzeln in der Schlosskirche, war am Ende vielleicht viel authentischer und passender für den Schwälmer Weihnachtsmarkt. Oder wie es Rainer Sander augenzwinkernd in seiner Anmoderation sagte: „Es gibt Ähnlichkeiten zwischen Schotten und Schwälmern. Beiden sagt man eine Neigung zur Sparsamkeit nach, beide leben in einer ehemals selbständigen Grafschaft und verbinden das mit einem gewissen Hang zur Aufsässigkeit und beide haben keltische Wurzeln. In der Schwalm sind diese zumeist im Boden vergraben, in Schottland leben sie noch in den Herzen der Menschen.“
Und genau diese keltischen Wurzeln in der Seele spürte das Publikum von der ersten Sekunde des Konzertes an. Der Auftakt traditionell, ein bisschen „modern“ angehaucht. Spätestens mit dem dritten Titel „Unburden Love“, der von der Freiheit der Seele durch die Liebe erzählt, war auch der Bann zum Publikum endgültig gebrochen. Mit Titeln wie „Something Or Nothing“ spannt die Band den Bogen vom traditionellen Songwriting aus ihrer Heimat Schottland ins Moderne und begegnet Einflüssen aus dem Celtic-Folk und der Americana-Musik aus den USA.
Mitsingen ist gut für die Gesundheit
Spätestens bei „Over The Hill“ und der Aufforderung von Steve, „Mitsingen ist gut für die Gesundheit: „hey hey hey auf Deutsch hoy hoy hoy, waren die am Ende rund 300 Besucher des Konzertes gefangen in der authentischen Musik von Steve Crawford (Gitarre, Gesang), Pete Coutts (Mandoline, Gesang) und Paul Bremen (Geige, Gesang).
Die drei erzählen zwischendurch Geschichten, mal auf Deutsch – alle drei sind zurzeit in Köln zuhause, touren aber durch ganz Europa – mal auf Englisch. Viele sind aus der schottischen Heimat von Steve und Pete, die schon seit 20 Jahren gemeinsam musizieren. Das schottische Zuhause von Pete ist dort, wo die Queen ihre Sommerresidenz hat, nähe Balmoral Castle, bei Aberdeen. „Eine schlechte Nachbarin, witzelt Steve, sie stellt den Müll immer spät raus…“ Er selbst kommt ebenfalls aus den Highlands, aus der Nähe von Inverness.
Geschichten – authentisch und fantasievoll
„Let me be“ ist eigentlich ein Country-Song, den hat er schließlich in Amerika geschrieben, während CD-Aufnahmen. Das Crossover passt aber in den Stil von Ballad Of Crows, für den die Violine von Paul oft die kulturelle Brücke schlägt. Auch bei „Pink Flamingo“, das nicht nur gedanklich Vorstellungskraft fordert. Alle scharen drei sich um ein Mikrofon in der Mitte und wirken so natürlich und echt, dass es einfach Freude macht, dem dreistimmigen Gesang und der instrumentellen Virtuosität zu lauschen.
Das Publikum lernt etwas über schottische Dialekte und dass es zu nordhessischen Sprachanomalien wie „alszus“ durchaus regionale schottische Parallelen gibt: „inandout“. Die Band spielt musikalische Märchen, zum Beispiel vom Superdrachen und jedes Lied ist eine Botschaft. Auch das von einem Freund und Biobauer, der in Gummersbach schottische Hochlandrinder züchtet. „Er glaubt, er sei Lou Reed: The Moon shines glowing in your Soul tonight“. Der Mond stand tatsächlich inzwischen über der Schlosskirche, während draußen auf dem Markt kurz der gesamte Strom ausgefallen war, infolge des Dauerregens.
Weihnachten überlegen, zurückblicken, analysieren
„Weihnachten“ erzählt Steve, ist die Zeit zu überlegen, zurückblicken, zu analysieren und dann authentisch zu leben. Dazu gehört etwas, das er sich von Politikern wünscht: „Speak The Truth“. Dazu folgt ein Stück, beim dem es um Hoffnung geht. Wenn die Nacht am allerdunkelsten ist: „5:00 AM“. „Show me the way to the next sunrise“ und Steve witzelt: „Hope the Brexit never comes“. Der einzige, winzige Ausflug in die Politik.
Die drei sind Europäer und das merkt man, aber natürlich auch heimatverbunden. „Wo ist der Unterschied zwischen irischer und schottischer Musik? Das erkennt man sofort, die schottische ist besser…“ Zum Konzert gehören auch „Jigs“, Klassische irisch-schottische Tanzstücke. „Wie Walzer auf Drogen“, schmunzelt Pete. Ihr müsst „Sitztanzen“, meint Steve, angesichts der Enge zwischen den Kirchenbänken. Bad Blood sagen die Schotten, wenn die Stimmung vergiftet ist. Good Blood setzen Ballad Of Crows dagegen: Frieden statt Streit in der Adventszeit.
Das Resümee?
Ein beeindruckend natürliches und ehrliches Konzert und ein restlos begeistertes Publikum, das eigentlich etwas ganz anderes erwartet hatte und mehr als positiv überrascht war.
Heute noch mal schottisch
Heute Abend wird es auf dem Schwälmer Weihnachtsmarkt noch einmal schottisch, wenn Targe of Gordon mit Dudelsäcken auf den Paradeplatz marschieren. Der traditionelle Abschluss des romantischen Weihnachtsmarktes in Schwälmer Tradition. Es muss etwas dran sein, an den keltischen Wurzeln in dieser Gegend. Schließlich haben auch irische Priester, wie Bonifatius, den christlichen Glauben ins Land der Chatten gebracht. Wenn das nicht zur Schwälmer Weihnacht passt… (rs)