Autor Norbert F. Pötzl las im Kulturhaus Synagoge
GUDENSBERG. Die Treuhand-Anstalt hatte nach der deutschen Wiedervereinigung die Aufgabe, die „volkseigenen“ DDR-Unternehmen zu privatisieren. Ein Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte, welches aktuell vielerlei Legendenbildung erfährt und zu politischen Zwecken ge- und missbraucht wird.
Mit dem Buch „Der Treuhand-Komplex“ durchdringt der ehemalige Spiegel-Redakteur Norbert F. Pötzl rational das Dickicht komplexer Vorgänge. Auf Einladung von Stadt Gudensberg und der VR Partnerbank Chattengau-Schwalm-Eder machte Pötzl auf seiner Lesetour kürzlich Station in Gudensberg.
Rund 80 interessierte Gäste hatten sich im Kulturhaus Synagoge eingefunden, auch, um nach einem anregenden Vortrag eifrig Fragen zu stellen. Die Diskussions- und Fragerunde dauerte denn auch so lang wie der Vortrag selbst. Eine der Fragen: „Zu wieviel Prozent, würden Sie sagen, hat die Treuhand ihre Aufgabe erfüllt?“ Eine Zahl mochte der Autor nicht nennen, die Treuhand habe aber deutlich überwiegend ihre Ziele erreicht. Hier konnte Jürgen Kaufmann, Erster Beigeordneter des Schwalm-Eder-Kreises einspringen: Zu 80 % habe die Treuhand ihre Aufgaben erfüllt, schätzte Kaufmann, der selbst einige Jahre für die Treuhand tätig war und seine Erfahrungen schilderte.
Fakten statt Mythen, Legenden und vorurteilsbeladene Meinungen
Zuvor hatte Pötzl eindrucksvoll Mythen, Legenden und vorurteilsbeladene Meinungen von den Fakten, die sich durch sein Studium der Archivunterlagen ergaben, geschieden. Hoffnungen, die neuen Bundesländer würden sich in wenigen Jahren in „blühende Landschaften“ verwandeln, waren durch den Zustand der maroden Staatsunternehmen nicht gedeckt. Das milliardenschwere Volksvermögen, für das am Runden Tisch gar noch Anteilscheine für jeden DDR-Bürger geplant waren, entpuppte sich schnell als Sanierungsfall und riesige Altlast.
Personell sei die durch die DDR-Volkskammer gegründete Treuhand kein Westprodukt gewesen, auch seien nicht 2,5 Mio. Arbeitsplätze durch die Treuhand abgewickelt worden, sondern lediglich rund 600.000, da weder die überbordende Staatsverwaltung noch die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften durch die Treuhand verschlankt wurden. Diese (notwendigen) Entscheidungen trafen andere.
Durchaus blühende Landschaften
Die ökonomische Nachwende-Schieflage sei nicht durch die Tätigkeit der Treuhand, sondern vielmehr durch politische Entscheidungen wie die der Währungsunion entstanden, die die Produktionskosten für die ostdeutschen Unternehmen bei noch längst nicht erreichter marktkonformer Produktivität in die Höhe trieb. So mussten die letzten Produktionsreihen des Wartburg bei 14.400 DM Produktionskosten für 7.800 DM verkauft werden.
Gemessen an den Kaufpreisen gingen rund 80 Prozent der von der Treuhand verwalteten Betriebe an westdeutsche, 15 Prozent an ausländische und 5 Prozent an ostdeutsche Investoren. Um große Unternehmen zu erwerben, fehlte Ostdeutschen das Kapital. Aber rund 25.000 „kleine Privatisierungen“ gingen fast ausschließlich an ostdeutsche Eigentümer. Beim Verkauf von rund 3.000 kleinen und mittleren Betrieben an leitende Mitarbeiter („Management-Buy-out“) kamen fast durchweg ostdeutsche Manager zum Zuge. Heute sei das häufig zu hörende Narrativ von den „abgehängten Landschaften“ angesichts kaum überdurchschnittlicher Arbeitslosenquoten und produktiver industrieller Kerne mit High Tech nicht zu belegen. Wenn noch nicht 1995, so könne man heute durchaus von blühenden Landschaften sprechen.
Der Autor und das Buch
Norbert F. Pötzl, geboren 1948, war seit 1972 Redakteur beim Spiegel. Als Berliner Büroleiter des Nachrichtenmagazins (1990 – 1994) war er Chronist der DDR-Vergangenheitsbewältigung. Er deckte Stasi-Verbindungen von Manfred Stolpe und Gregor Gysi auf. Das Buch „Der Treuhand-Komplex. Legenden. Fakten. Emotionen“ erschien im September 2019 im Kursbuch-Verlag und ist im Buchhandel erhältlich. (pm | rs)
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Zum Dank für den interessanten Vortrag gab es einen nordhessischen Präsentkorb überreicht von Bürgermeister Frank Börner (l.) und VR Partnerbank Vorstand Kai Mardorf (Mitte) © Foto: pm | nh