SCHWALMSTADT-TREYSA. Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigungen würden oft doppelt diskriminiert, sagte die Vorsitzende des Landesbehindertenbeirats Naxina Wienstroer bei einer Fachtagung auf dem Campus der Hephata Diakonie.
Partizipation, Teilhabe und Empowerment von Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigungen – Perspektiven für die kommunale Praxis: Darum ging es bei der Veranstaltung der Evangelischen Hochschule Darmstadt (EHD) am Studienstandort Schwalmstadt-Treysa.
An der von Hephata-Direktorin Judith Hoffmann, Prof. Dr. Michael Vilain, Vizepräsident der EHD, sowie Dr. Marlis Sewering-Wollanek (Universitätsstadt Marburg) eröffneten Veranstaltung nahmen rund 100 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis teil. Um die Situation von Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigungen zu verbessern, müssten vielfach Strukturen verändert und ein solidarischeres Miteinander von Menschen mit und ohne Handicap ermöglicht werden, so der formulierte Handlungsauftrag an die Politik.
„Ziel unserer Arbeit ist die Verbesserung sozialer Realitäten“, sagte Vilain. Wie diese aussehen, erläuterten Prof. Dr. Susanne Gerner und Johanna Zühlke von der EHD anhand eines Forschungsprojekts zur Lebenssituation und Teilhabe von Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigungen in Marburg. Das von Prof. Gerner und Dr. Christine Amend-Wegmann (Gleichberechtigungsreferat der Stadt Marburg) geleitete Projekt untersuchte zwei Jahre lang die Situation von Frauen und Mädchen mit Lernschwierigkeiten und Gehör-Beeinträchtigungen in der Universitätsstadt.
Festgelegte Tagesabläufe, mangelnde Möglichkeiten, mit Nicht-Behinderten und Behinderten außerhalb von Schule und Werkstätten in Kontakt zu kommen und die Abhängigkeit von Anderen, auch in der eigenen Familie, erschwerten die Möglichkeiten von Selbstbestimmung und Teilhabe, so das Ergebnis der Studie, zu der rund 30 Frauen und Mädchen befragt wurden. Viele Frauen und Mädchen fühlten sich mit ihrer Behinderung stigmatisiert, fremdbestimmt und von der übrigen Gesellschaft ausgeschlossen. So gebe es viele Kommunikationsbarrieren im Alltag, angefangen bei mangelnden Gebärdendolmetschern am Arbeitsplatz, bei Ausstellungseröffnungen, beim Arzt oder auf dem Einwohnermeldeamt. Auch seien zu wenige Menschen bereit, sich mit der Gebärdensprache vertraut zu machen, um mit Gehörlosen in Kontakt treten zu können.
Im Spannungsverhältnis von Schutz und Autonomie falle es Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigungen schwer, sich ihr Lebensumfeld selbst zu erschließen – dem Wunsch nach Eigenständigkeit steht der Bedarf an Betreuung gegenüber. Inklusion dürfe sich nicht nur auf Schule und Ausbildung beschränken, sondern müsse überall in der Gesellschaft greifen, auch in der Freizeit. Oder anders gesagt: Inklusion geht alle an.
Die Initiative für das zweijährige Forschungsprojekt in Schulen, Werkstätten, Freizeittreffs und Wohngruppen in der Stadt Marburg lieferte Anneliese Mayer, Diplom-Sozialarbeiterin aus Marburg und Lehrbeauftragte an der EHD. Das Projekt wurde gefördert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, der Universitätsstadt Marburg sowie dem Forschungszentrum der EHD. Die Tagung wurde in Kooperation mit dem Gender- und Frauenforschungszentrum der Hessischen Hochschulen durchgeführt.
Frauen mit Beeinträchtigungen fühlen sich oft nicht angesprochen von der nicht-behinderten Gesellschaft. Um die Teilhabe von Frauen mit Behinderungen zu verbessern, bedürfe es einer stärkeren Interessenvertretung in der Politik, so das Fazit der Fachtagung. Denn vielfach sei die mangelnde Teilhabe von Frauen und Mädchen am gesellschaftlichen Leben ein strukturelles Problem – angefangen von fehlenden Gebärdendolmetschern über mangelnde Niederflurbusse bis hin zu Jugendzentren im dritten Stock, sagte Julia Grunewald-Discher, Jugendbildungsreferentin des Schwalm-Eder-Kreises.
Zehn Jahre nach Bestehen der UN-Behindertenkonvention werde noch immer nicht genügend auf die besonderen Belange von Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigungen geachtet, kritisierte Martina Puschke vom Verein Weibernetz. Behinderte Frauen würden in unserer Gesellschaft oft doppelt diskriminiert – als Frau und aufgrund ihrer Beeinträchtigung, so Naxina Wienstroer, Vorsitzende des Landesbehindertenbeirats. So endete die Tagung endete mit einem Appell, die Parallelwelten von Frauen und Mädchen mit und ohne Behinderung aufzubrechen. Denn: „Nur eine inklusive Gesellschaft, die solidarisch ist, kann auch etwas bewegen.“
Das Bild: Gastgeber und Referenten der Fachtagung im Kirchsaal der Hephata Diakonie (von links): Prof. Dr. Michael Vilain (EHD-Vizepräsident), Katja Eichler (Frauenbeauftragte der Sozialen Rehabilitation Hephata), Judith Hoffmann (Hephata-Vorstand), Anneliese Mayer (EHD), Naxina Wienstroer (Landesbehindertenbeirat), Linda Kagerbauer (Frauenreferat der Stadt Frankfurt/Main), Martina Puschke (Verein Weibernetz), Prof. Dr. Ulrike Schildmann (Universität Dortmund), Dr. Marlis Sewering-Wollanek (Stadt Marburg), Johanna Zühlke (EHD), Prof. Dr. Susanne Gerner (EHD), Dr. Christine Amend-Wegmann (Leiterin Gleichberechtigungsreferat Stadt Marburg), Julia Grunewald-Discher (Jugendbildungsreferentin Schwalm-Eder-Kreis), Lena Rau (Jugendförderung Stadt Marburg), und Mandy Lauer (EHD).