Schollengründer Heinrich Stein von den Nazis in den Tod getrieben
SPANGENBERG/GUDENSBERG. Am kommenden Wochenende feiern die Bewohner der Siedlung „Eigene Scholle“ in Spangenberg ihr 100-jähriges Bestehen. Rechtzeitig zu diesem Jubiläum hat der Gudensberger Historiker Dr. Dieter Vaupel ein Buch vorgelegt, das die Geschichte dieser besonderen Siedlung dokumentiert.
Eine Besonderheit ist schon ihre Entstehungsgeschichte: Angesichts großer Wohnungsnot in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hatten eine Handvoll Männer, an ihrer Spitze ein sozial engagierter Demokrat, der Förster Heinrich Stein, den Mut, etwas völlig Neues anzugehen. Sie wollten eine Siedlung entstehen lassen, die es Familien der unteren Sozialschichten ermöglichen sollte, in ihren eigenen vier Wänden und damit in sicheren sozialen Verhältnissen zu wohnen. Das Projekt gelang, nicht zuletzt dank öffentlicher Gelder, die akquiriert werden konnten. So entstand eine Siedlung für zunächst 34 Familien vor den Toren der Stadt in Kleinhaus-Bauweise unter tätiger Mithilfe der Siedler. Es war das erste soziale Wohnungsbauprojekt in der noch jungen Weimarer Demokratie, die erste Reichsheimstättensiedlung in Deutschland – und damit ein Vorbild für andere Städte und Gemeinden.
Während Heinrich Stein und seine Mitstreiter das Wohl derjenigen im Auge hatten, denen es schlechter ging als ihnen, gab es auch andere, die – wie heute bei vergleichbaren Projekten – als Spekulanten auf den Plan traten. So der Architekten Theobald Fenner, der bereits in den 20er Jahren zu den Mitbegründern der NSDAP in Spangenberg gehörte. Er sicherte sich einige der besten Grundstücke auf dem Siedlungsgelände. Stein versuchte mit aller Macht dem entgegenzusteuern und machte sich dadurch Fenner zu seinem erbitterten Feind
Als dann 1933 der fanatische Nationalsozialist Fenner auch noch zum Bürgermeister und Ortsgruppenleiter aufstieg, versuchte dieser das soziale Engagement Steins in den Schmutz zu ziehen. Stein wurde durch Rufmordkampagnen in die Enge getrieben, SA-Trupps patrouillierten vor seinem Haus. Aus Verzweiflung über die Diffamierung seines Lebenswerkes nahm Stein sich schließlich im August 1933 das Leben. Er erschoss sich im Keller seines Hauses, auf seinen Knien das aufgeschlagene Gesangbuch mit dem Lied „Es ist genug“.
Doch Steins Lebenswerk besteht weiter, seit 1951 nennt sich die Siedlung stolz nach ihm „Heinrich-Stein-Siedlung“. Die Anfangsjahre haben die Menschen, die in dieser Siedlung wohnten, zusammengeschweißt, ganz besonders die Gründergeneration, aber auch die nachfolgenden Generationen. Daraus entstanden Traditionen, die viele Jahrzehnte lang gepflegt wurden: Es gab einen Schollenrat, einen Schollenbürgermeister und jährlich feierte man das Gründungsdatum im September mit einer Schollenkirmes – eine Tradition, die man nun zum 100-jährigen Jubiläum wieder aufleben lässt. Und auch heute noch – so Reiner Ploss und Fides Baumgart, die beide seit vielen Jahrzehnten dort wohnen, „halten wir auf der Scholle zusammen und unterstützen uns gegenseitig.“ Das kann auch Vaupel bestätigen, der dort aufgewachsen ist und der nun die Historie zusammengetragen hat.
Dieter Vaupel: 100 Jahre Eigene Scholle. Ein zukunftsweisendes Wohnungsbauprojekt und was daraus wurde. Berlin: Epubli-Verlag 2019. 88 Seiten, 10,90 Euro. ISBN 978-3-7485-7850-5.
Das Bild: Erste Siedlungshäuser in einfachster Kleinhausbauweise auf der „Eigenen Scholle“. Vor dem Haus ihre Bewohner, Familie Ruppel