WABERN. Am Waberner Kirchplatz tauchte vor Kurzem ein wahrer historischer Schatz auf: Auf der einen Seite ein harmloses altes Schachbrett, dreht man es aber herum, werden einzigartige biografische Stationen eines ehemaligen Wehrmachtssoldaten vom 15. Mai 1945 bis zum 15. Oktober 1947 in tschechoslowakischer Kriegsgefangenschaft sichtbar. Und das in Form von kleinen, liebevollen Kugelschreiberzeichnungen.
Sie stammen von Georg Riemenschneider, der am 8. Oktober 1907 in Wabern geboren wurde. Seine Ausbildung absolvierte er auf einer Landwirtschaftsschule. Später arbeitete er auf dem Kornhaus von Raiffeisen in der Wilhelm-Dilich-Straße Nummer 2. Mit seiner Schwester Emma und deren Tochter Rosemarie lebte er am Kirchplatz in Wabern.
Georg hatte kurzzeitig mal eine Liaison mit der Magd eines benachbarten Bauernhofes. Daraufhin wies ihn seine Mutter, eine reiche Bauerntochter aus Wolfershausen, zurecht, „was er sich denken würde, … sie hatten sechs Pferde Zuhause und er wolle mit einer Magd anbändeln“. Das Machtwort seiner Mutter blieb nicht folgenlos, Georg blieb ledig. Er verstarb am 22. Februar 1971 im Homberger Krankenhaus. Seine Nichte Rosemarie Pfeil, Jahrgang 1936, erbte seinen Nachlass, unter anderem das Schachbrett.
Die erste dort verzeichnete Station im Mai 1945 war das Prager Stadion, in das u.a. auch deutschstämmige Bürger aufgrund der grausamen Besatzungsmethoden der Wehrmacht und der SS sowie der enormen Kriegsverbrechen (z.B. Lidice) in der ehemaligen Tschechoslowakei inhaftiert wurden.
„Den internierten Deutschen stand Schreckliches bevor. Im Stechschritt mussten sie unter Beschimpfungen der Passanten durch die Straßen zu Arbeitseinsätzen ausrücken. Den Frauen wurden die Haare geschoren und sie hatten Steine zu schleppen. Kranke oder Verletzte wurden auf offener Straße erschossen. Im Strahov-Stadion am Stadtrand harrten 10.000 Gefangene ohne Essen und Trinken aus. Alte und Kinder starben zu Hunderten an der Ruhr. Vor den Augen der Häftlinge prügelten Milizionäre tatsächliche oder vermeintliche NS-Funktionäre zu Tode“, so das Magazin „Der Spiegel“ im März 2002.
Später war Georg Riemenschneider in einem europaweit einmaligen Bergwerk zwangsweise im Einsatz. Im tschechischen St. Joachimsthal wurde in den Gruben Uran für Forschungszwecke der deutschen Wehrmacht abgebaut. Bald nach Kriegsende, Jáchymov war nun wieder Teil der Tschechoslowakei, überließ die tschechoslowakische Regierung die Nutzung der damals weltweit einzigen bekannten geöffneten Uranlagerstätten der Sowjetunion. Denn diese benötigte schnellstmöglich Uran für die Forschung und Entwicklung einer Atomwaffe.
Über mehrere Stationen, u.a. Bratislava, und die kleine Landgemeinde Kněževes führte es Georg Riemenschneider immer wieder ins Lager Motol. Dieses war ein Prager Zentrallager, Krankenlager und zentrales Entlassungslager für die deutschen Kriegsgefangenen in der Tschechoslowakei zugleich. Hier wurde er im Oktober 1947 entlassen.
Georg Riemenschneiders Fazit der Kriegsgefangenschaft war eindeutig: „Große Hunde, dunkle Schächte, leere Schüsseln, kurze Nächte und auf der Stube noch Streit und Zank, dass ist des Landsers Untergang“.
Noch heute erinnern die Initialen „G“ und „R“ im eisernen Treppengeländer des Hauses am Kirchplatz Nummer 17 in Wabern an ihn oder an seinen Vater, der ebenfalls Georg Riemenschneider hieß. (Von Thomas Schattner)