Abschlussbericht von Medizinhistoriker Roelcke bestätigt Forschungsinteresse des damaligen Chefarztes
TREYSA. Rund 2000 Akten von Patienten und „Pfleglingen“ Hephatas aus den 1950er bis 70er Jahren hat der Medizinhistoriker Prof. Dr. Volker Roelcke (Universität Gießen) mit Unterstützung durch den Historiker Dr. Karsten Wilke (Universität Bielefeld) durchgesehen und bewertet.
Roelckes Ergebnis: Das Forschungsinteresse von Prof. Dr. Willi Enke, der bis 1963 Chefarzt Hephatas gewesen ist, hat dazu geführt, dass Patienten eine so genannte Pneumencephalographie (PEG) über sich ergehen lassen mussten, ohne dass es dafür eine medizinische Indikation gegeben hätte. Auch Enkes Nachfolger Prof. Werner Grüter (von 1963 bis 1968) hat demnach die PEG teilweise zu Forschungszwecken angewendet.
„Bezogen auf den Klinikbereich ist die Häufigkeit von Forschungs-PEGs deutlich höher als im Pflegebereich“, erläutert Roelcke. So kommt er zu dem Ergebnis, dass im Klinikbereich in 42 Prozent der insgesamt 35 entdeckten PEG-Dokumentationen keine diagnostische Indikation für die Hirnuntersuchung vorgelegen habe und deshalb „sehr wahrscheinlich“ ein Forschungsinteresse vorgelegen habe. In 15 Patientenmappen seien PEGs dokumentiert, bei denen von einer Forschungsintervention auszugehen sei, so der Medizinhistoriker. Die tatsächliche Zahl aller Forschungs-PEGs indes sei vermutlich höher. Die heute noch vorhandenen Akten stellen nur einen Teil der insgesamt im Dienstzeitraum von Enke und Grüter behandelten Patienten dar. Dass sie überhaupt noch vorhanden sind, ist ein Zufall. Üblich ist, dass Patienten-Akten spätestens nach 30 Jahren vernichtet werden.
„Mit diesem Ergebnis bestätigt sich der Ausgangsverdacht, wonach Enke als Chefarzt ihm anvertraute Kinder und Jugendliche unnötigerweise Schmerzen und Gefahren ausgesetzt hat, um mit den Ergebnissen der Untersuchungen seine mehr als fragwürdigen medizinischen Thesen zu dem von ihm unterstellten Zusammenhang zwischen frühkindlichen Hirnschädigungen und so genannter Schwererziehbarkeit zu untermauern“, erklärt Maik Dietrich-Gibhardt, Vorstandssprecher der Hephata Diakonie. Neu sei die Erkenntnis, wonach offenbar auch Enkes Nachfolger Prof. Grüter, der bis 1968 Chefarzt in Hephata gewesen ist, aus Forschungsinteresse die PEG durchgeführt hat. Dies wird laut Roelckes Abschlussbericht in sechs Akten deutlich.
Bezogen auf Grüter betont Roelcke, dass der Enke-Nachfolger offenbar kein Interesse daran hatte, ebenso wie sein Vorgänger die hirnorganische Grundlage von Verhaltensauffälligkeiten nachzuweisen. „Soweit sich das aus Grüters Publikationen rekonstruieren lässt, bestand sein Interesse vielmehr darin, die Möglichkeiten und Grenzen neuroradiologischer Methoden zur Diagnostik von verschiedenen neurologischen und psychiatrischen Krankheitsbildern genauer auszuloten“, erklärt Roelcke. Dabei sei es Grüter nicht um möglichst große Fallzahlen von Forschungs-PEGs gegangen, sondern eher um exemplarische Befunde.
Über die Erkenntnisse der nun abgeschlossenen internen Recherchen in alten Patientenakten zeigt sich der Hephata-Vorstand zutiefst erschüttert. „Die Vorgehensweise der seinerzeitigen Chefärzte ist in hohem Maße verwerflich und mit dem Menschenbild der Hephata Diakonie in keiner Weise vereinbar“, sagt Dietrich-Gibhardt und betont: „So, wie der Vorstand der Hephata Diakonie bereits vor zehn Jahren im Zusammenhang mit dem Runden Tisch Heimerziehung alle diejenigen um Entschuldigung gebeten hat, die in Einrichtungen Hephatas Leid und Unrecht erfahren haben, bitte auch ich hier und heute im Namen des gesamten Hephata-Vorstands um Entschuldigung für das menschenunwürdige Vorgehen der damaligen Chefärzte Enke und Grüter.“
Dabei gehe es nicht nur um die Durchführung einer riskanten Diagnostik ohne medizinische Indikation, sondern auch um das Ausbleiben für die damalige Zeit üblicher Voruntersuchungen wie ein EEG. Ein EEG hätte, gibt Dietrich-Gibhardt die Ergebnisse Roelckes wieder, Hinweise liefern können, ob eine PEG notwendig gewesen sei oder nicht. „Zudem hat Prof. Roelcke in den Akten zwar Einverständniserklärungen von Sorgeberechtigten für die PEGs gefunden, denen aber nach Aktenlage völlig irreführende Aufklärungen vorausgegangen waren, indem Nebenwirkungen und Risiken der Untersuchung wider besseren Wissens verharmlost worden sind.“
Dass schon die seinerzeitige Besetzung der Chefarzt-Position mit Enke aufgrund dessen eindeutiger Vorbelastung aus der NS-Zeit mehr als problematisch gewesen ist, habe die Hephata Diakonie in den 1980er Jahren erstmals in einer Publikation dargestellt. Über Enkes Forschungsinteresse in den 1950er Jahren hatte Hephata zunächst 2009 einen Beitrag in einem Buch über die Geschichte der Hephata-Jugendhilfe veröffentlicht. „Heute sind wir dankbar dafür, dass wir durch Hinweise aus den von der Evangelischen Kirche von Hessen-Nassau beauftragten Recherchen mit Professor Roelcke einen renommierten Medizinhistoriker gefunden haben, der die Zusammenhänge der damaligen Zeit insbesondere bezogen auf die Methode der Pneumencephalographie wissenschaftlich fundiert einordnen kann und die noch vorhandenen Bewohner- und Patientenakten Hephatas aus den Jahren, in denen Enke Chefarzt gewesen ist, und darüber hinaus bis ins Jahr 1975 insgesamt betrachtet“, so Dietrich-Gibhardt.
Neben der Bestätigung der Forschungs-Intervention von Enke und Grüter erbrachte die Recherche von Roelcke eine weitere Erkenntnis: Bis Mitte der 1970er Jahre ist die Methode der Pneumencephalographie in der damaligen Nervenklinik Hephata weiterhin angewendet worden. Im Zeitraum bis 1975 hat Roelcke innerhalb von 336 vorliegenden Akten von zum Untersuchungszeitraum minderjährigen Patienten insgesamt 20 Fälle gefunden, in denen die Indikation zur PEG „nicht dem zeitgenössischen Fachkonsens für eine diagnostische Abklärung“ entsprochen habe. Da sich ein Forschungsinteresse der jeweiligen Chefärzte allerdings nicht ableiten lasse, geht Roelcke davon aus, dass die diagnostische Indikation in diesen Fällen im Verhältnis zum zeitgenössischen Wissensstand zu „großzügig“ gestellt und damit die mit der Untersuchung verbundenen Risiken zu gering eingeschätzt worden seien. Während der Prozentsatz der PEGs an der Gesamtzahlt der dokumentierten Patienten bis 1974 in etwa konstant geblieben sei, habe die Klinik im Jahr 1975 nur noch in 3,5 Prozent der dokumentierten Fälle eine PEG durchgeführt, so Roelcke.
„Dass die PEG generell als diagnostische Methode auch nach der Amtszeit von Enke noch eine Rolle gespielt haben könnte, war zwar anzunehmen“, erklärt Dietrich-Gibhardt. Dass die Untersuchung allerdings weiterhin öfter als zwingend erforderlich angewendet worden sei, hält Dietrich-Gibhardt für „mehr als problematisch“. Auch wenn die Nachfolger von Enke und Grüter die PEG nicht mehr aus Eigeninteresse wie einer Forschungsintervention angewendet haben, so hätten sie doch in 20 Fällen Kinder und Jugendliche unnötigerweise gefährdet und ihnen Schmerzen zugefügt. „Auch dafür können wir mehr als 40 Jahre später leider nur noch um Entschuldigung bitten und versichern, dass wir derartige Vorgehensweisen in der heutigen Zeit nicht zulassen würden“, betont Dietrich-Gibhardt.
Welche Schutzkonzepte die verschiedenen Bereiche der Hephata Diakonie aktuell anwenden und wie diese in einer neuen Rahmenrichtlinie zur Prävention von und zum Umgang mit Gewalt in allen Diensten und Einrichtungen Hephatas zusammengefasst worden sind, ist Thema eines Fachtags, zu dem die Hephata Diakonie am 3. April 2019 in den Hephata-Kirchsaal einlädt. Weitere Infos und Anmeldung unter www.hephata.de/gewaltpraevention. Ab dem 28. Februar und noch bis zum 6. März zeigt die Hephata Diakonie zudem in ihrem Kirchsaal in Treysa die Ausstellung der Evangelischen Landeskirche von Hessen-Nassau (EKHN) über Heimkinderschicksale in den 1950er bis 70er Jahren. Ergänzend dazu werden die aktuellen Schutzkonzepte der Hephata Diakonie ausgestellt. Die Ausstellung ist täglich von 11 bis 16 Uhr öffentlich zugänglich.
Den vollständigen Abschlussbericht von Prof. Dr. Roelcke mit genauen Zahlen und allen Details gibt es zum Nachlesen unter www.hephata.de/peg (pm)
Das Bild: Hephata-Vorstandssprecher Maik Dietrich-Gibhardt (links) und Medizinhistoriker Prof. Dr. Volker Roelcke von der Universität Gießen bei der Vorstellung des Abschlussberichts