SCHWALMSTADT. Kennen Sie die Totenkirche? Sie steht in Treysa und zählt zu den besterhaltenen Kirchenruinen aus guter alter Zeit vor 800 Jahren, als die Glaubenswelt noch völlig in Ordnung war, es nur eine Kirche gab, kontinuierlich Kriege um Land und Besitz tobten und die Menschheit klar unterteilt war in Dienstherren und Eigenleute, später Leibeigene.
Nur in den Städten waren die Menschen frei. Für Geld gab es alles, ohne Geld nicht mal ein Stück Brot. Grundsicherung? Fehlanzeige!
Sie ist St. Martin geweiht, dem Heiligen, der seinen Mantel mit einem Armen vor den Toren von Amiens teilte und dem zu Ehren wir den Sankt Martinstag feiern. Einst war sie klösterlicher Sakralbau und nach der Reformation vor allem Kirche für Beerdigungen. Daher der Name. Im 30-jährigen Krieg Symbol von Standfestigkeit, als der Turm mit Buttermilch bestrichen wurde, um den belagernden Truppen (nicht) zu zeigen, wie groß (knapp) die Vorräte noch sind.
Schon in den 80er und 90er Jahren war die Totenkirche immer wieder Thema und über die Jahrzehnte ist sie es geblieben, weil sie Menschen anzog, die dort ihre Freizeit auf „eigene“ Weise verbringen wollten. Auch solche, die am Rand der Gesellschaft stehen, mit Alkohol, Drogen und ihrem eigenen Gewaltpotential schlecht umgehen können, die laut sind und Streit mit der Gesellschaft suchen. Vorbei die Zeit, als Alles’n Willi noch die Hand drauf und seine Kumpels im Griff hatte.
Allerlei „missratenes Volk“ treibt sich seither rum, so ist eindeutig Volkes Meinung. Noch am 15. August 2007, also vor rund 12 Jahren, wurde Bürgermeister Wilhelm Kröll mit Graffitis und auffälligem Verhalten in der Totenkirche konfrontiert. Die Bürger könnten ihn immer anrufen, wenn ihnen etwas auffällt und von Passanten erwarte er mehr Zivilcourage, wenn es um das Ermahnen von Auffälligkeiten geht, erklärte er in den damaligen Medien.
Was sonst nur die Bushäuschen geschafft haben, konnte die Totenkirche stets besser: Heimat werden für die Heimatlosen. Das Problem von Sachbeschädigungen, Radau, Vandalismus und Verschmutzung ist also nicht wirklich neu. Zum zentralen Thema politischer Auseinandersetzungen hat sie es allerdings erst in den letzten Monaten geschafft. Seit die Bushäuschen aus Glas sind und keinen Sichtschutz mehr bieten, haben sie ihren Reiz verloren. Die im Dunkeln sieht man nicht, heißt es in der Dreigroschenoper so schön doppeldeutig. Die Totenkirche bietet immer die Möglichkeit, im Dunkeln zu sein.
Es nützt nichts, liebevoll mit allen Menschen umzugehen, die irgendwann einmal zu einem Problem werden können. An der Wurzel ließ sich das Thema also scheinbar nie packen. Die Dimension ist heute eine andere und die Qualität auch. Wer das Gelände nachts nicht schließen will und lieber rund um die Uhr Präsenz wünscht, muss wissen, dass das etwas kostet. Wer schon mal einen Stellenplan geschrieben hat, weiß, dass ein Jahr 8760 Stunden hat und ein tariflich bezahlter Mitarbeiter höchstens 1550 Stunden im Jahr arbeitet. Für rund um die Uhr braucht man also 5 ½ Mitarbeiter und weil kein echter Polizist so etwas allein machen würde, demnach 11 Mitarbeiter für eine Doppelstreife, um ganzjährig, an allen Tagen, über 24 Stunden Ordnungsdienst zu gewährleisten. Das kostet selbst bei eher schlechter Bezahlung 350.000 Euro. Die Stadtverordneten in Schwalmstadt haben also die Wahl, wie viel Präsenz sie wollen und was es ihnen am Ende tatsächlich Wert ist…
Ihr
Rainer Sander