Rock’n Nordhessen – Rock live von The Petards bis Milky Chance
BAUNATAL. Mit den Knallfröschen fing es an. So hieß übersetzt der Bandname der ersten national erfolgreichen Rockband Nordhessens: The Petards. In der Drehscheibe trat das Schrecksbacher Quartett um die Brüder Horst und Klaus Ebert 1967 zum ersten Mal im TV auf, 1968 gründeten sie das Herzberg Festival, ein Jahr vor Woodstock.
Bis Anfang der 70er Jahre feierten sie Erfolge in Deutschland und den Nachbarländern, aber der internationale Erfolg blieb ihnen versagt. Den feiern – rund 50 Jahre später – Milky Chance aus Kassel.
Diese 50 Jahre hat nh24-Redakteur Rainer Sander in einem aufwändigen Programm zusammengefasst und am Sonntagabend in der Baunataler Stadthalle präsentiert. 13 Bands und Solokünstler spielten ein dreieinhalb-stündiges Konzert aus 50 Jahren nordhessischer Rockgeschichte mit vielen ihrer Höhepunkte, Besonderheiten und „Ausreißer“. Dabei spielte (Nord-) Hessens beste Coverband (gemäß Jörg Bombach vom Hessischen Rundfunk), die Steven Stealer Band, quasi als Roter Faden, zu jedem Jahrzehnt einen internationalen Rock-Song. Dazu gehörten Titel wie Whole Lotta Love, Gypsy, Knocking On Heaven’s Door oder In The Air Tonight. Sonst hörten die 300 Besucher (fast) ausschließlich Eigenkompositionen, zumindest Kompositionen, die aus der Region stammen.
Petards per Video und Live mit Gerold Stiebeling
Die Petards konnten nur per Video von der Burg Herzberg grüßen. Zwei Bandmitglieder sind inzwischen verstorben und Bassist Rüdiger Waldmann feierte just am 23. September seinen 75. Geburtstag. Ein Grund auch für Drummer Arno Dittrich, lediglich Grüße auszurichten. Dessen aktuelle Band Rocktail spielte allerdings trotzdem und mit Doctor, Doctor das, was sie seit 1985 macht: Funkrock aus eigener Feder.
Das Petards-Video hatte Gerold Stiebeling geschnitten, der mit der Schwalmstädter Band Lyspinon dann auch „On The Road With My Bag“, einen alten Petards-Song in neuem Gewand, präsentierte. Zu den 70ern gehörten international die Supergroups wie Yes, Emmerson, Lake & Palmer oder Genesis, in Nordhessen dominierten in der Schwalm die Nono’s Free Band, in Bad Wildungen Airway, in Marburg Pell Mell und in Kassel Rattengift, Aqua, Agata oder Untitled. Der Gitarrist von Untitled, Harald Wehnhard, heute Musikverleger, und der Keyboarder, der Aqua den typischen Hammond-Sound verlieh, Martin „Merten“ Großkurth, spielen heute in der neuformierten „Merten’s Manufaktur“ zusammen. Mit Präludium Magnum füllte ein Instrumental mit schwerem Keyboard-Sound und verspielten Gitarrensoli den ausverkauften mittleren Saal der Baunataler Stadthalle.
Mark Prang singt Matthias Reim
Die 80er standen für Punk, New Wave und Neue Deutsche Welle (NDW). In Nordhessen überraschte der ehemalige Sänger von Aqua und Airway, Matthias Reim mit dem ersten Schlagerrock-Titel „Verdammt ich lieb Dich“. Auch wenn der Matze selbst nicht da war, gab es den Titel für das begeisterte Publikum in einer gefühlvollen Piano-Version mit Mark Prang am Mikrofon. Der ehemalige DSDS-Recall-Teilnehmer, der sonst mit seiner Gitarre symbiotisch verbunden zu sein scheint, überzeugte mit einer Perfomance, die dem Original nichts nachstand. Natürlich gab es dann die Mark Prang Band noch im Original.
Dialog-Moderation von Bernd Kaiser und Rainer Sander
Als Gegenentwurf zur NDW stieg Gerold Stiebeling auf Deutschrock um, in Baunatal spielte er aus dieser Zeit „Der Clown“. Dass Gerold Stiebeling fast bei den Petards getrommelt hätte und später bei einem Song-Contest in Irland noch einmal richtig auf europäischer Ebene „zugelangt“ hat, das erfuhren die Besucher von Konzert-Organisator Rainer Sander und Bernd Kaiser, der sonst die großen internationalen Handball-Events moderiert und in der Rothebach-Halle alle zwei Wochen die MT Melsungen präsentiert. Die beiden plauderten sich durch die letzten 50 Jahre und erzählten dabei wichtiges und wissenswertes über die Musik und die Bands. Moderation und Live-Musik präsentiert im Stil einer Fernseh-Show, könnte ein neues Format für ein nordhessisches Rockevent werden.
Neu und belebend in Nordhessen wirken viele Musiker, die es irgendwann hierher verschlagen hat. Zum Beispiel Alex Conti von Lake oder das Ehepaar Agata Kryszak-Marczok und Fabian Marczok. Mit „Krótko żyją motyle” hatte Agata in den 80ern einen Nummer-eins-Hit in Polen. Den spielten sie mit ihrer Gudensberger Band Different Sides zum ersten Mal mit deutschem Text, bei dem Rainer Sander gerne etwas geholfen hat. Zusätzlich spielten sie ihre neue Single zum ersten Mal live: „Lass uns Leben“.
Mal Mundart – mal ganz sanft
Will man nordhessischen Rock resümieren, dann gehören die Mundart-Rocker dazu. Hokke Scheeb überraschten die Kasseläner mit dem Rock’n’Roll Titel „Schwälmer Lissche“ und Dark Vatter konterte mit dem „Kasseläner Boogie“. Wild Frontier, sonst Hard-Rocker aus Wabern, kamen sanft und unplugged daher. Mutig in Baunatal: ein Medley mit der KSV-Hessen Hymne, die die Band geschrieben hat.
Wer bei Folk glaubt, dass das eine Domäne amerikanischer Musiker wäre, der kennt Shiregreen und Klaus Adamaschek nicht. Die Rotenburger Band spielt amerikanischen und deutschen Folk so überzeugend, als würde man den Amerikanern Coca Cola verkaufen. Das Medley Kompass/Earthbound-Song kam mit Akkordeon und Violine auf die Baunataler Bühne.
Sanfte Töne und überraschendes Finale mit „Stolen Dance“ und „Auf uns“
Ganz sanft und Solo kam auch Bernhard Schüler aus Lohfelden daher. Einer der inzwischen weltweit anerkanntesten Jazzpianisten, sonst mit seiner Band Triosence unterwegs spielte ein virtuoses Solo auf dem Flügel. Und auch Lokalmatador Michael Holderbusch kam Solo mit Gitarre, aber keine Spur schwächer, als in seinem Superstar-Finale mit Waltzing Mathilda. Ben Black schloss den Solo-Block mit seinem Mitsing-Song „Gezeitengedöns“.
Natürlich durften, gemäß dem Konzert-Titel, auch Milky Chance nicht fehlen. Different Sides spielten Stolen Dance – am Ende mit einem Gitarrensolo – und führten das Finale an. Mit der WM-Hymne aus 2014 „Auf uns“ von Andreas Bourani, verabschiedeten sich die rund 50 Musiker des Abends und sangen zum Abschied mit dem Publikum gemeinsam. Der Hintergrund: Autor dieses Titels ist mit Tom Olbrich aus dem Frielendorfer Ortsteil Todenhausen ein waschechter Nordhesse, der jetzt in Berlin lebt. Also eigentlich ein nordhessischer Song.
Buch im Frühjahr
Eigentlich wollte Event-Organisator Rainer Sander mit diesem Konzert sein neues Buch „50 Jahre nordhessische Rockmusik zwischen Petards und Milky Chance“ vorstellen. Mit-Autor wäre Baunatals Bürgermeister Manfred Schaub gewesen, der im Sommer überraschend verstorben ist. Durch den plötzlichen Tod musste die Veröffentlichung auf das Frühjahr 2019 verschoben werden. Dann aber soll es im Verlag der Linus Wittich Medien AG erscheinen und natürlich in der Baunataler Stadthalle präsentiert werden. Publikum und Bands waren sich übrigens einig, dass eine Version 2.0 – irgendwann – eine gute Idee wäre. (rs | gr)