Feierstunde zum VW-Jubiläum in Baunatal
BAUNATAL. Vor 60 Jahren, als das VW-Werk Kassel in Baunatal seine Arbeit aufnahm, trat Elvis Presley seinen Militärdienst in Bad Nauheim an und der FC Schalke wurde zum letzten Mal (bis heute) Deutscher Meister.
Daran erinnerte der Vorsitzende der Baunataler Stadtverordnetenversammlung, Peter Lutze, in seiner Eröffnungsansprache zur Feierstunde für „60 Jahre VW-Werk“ in Baunatal. Offiziell am 1. Juli 1958 begann auf dem Gelände der insolventen Henschel Flugmotorenbau GmbH eine Geschichte, die Nordhessen wie keine andere geprägt hat.
Werkleiter Thorsten Jablonski, Betriebsratsvorsitzender Carsten Bätzold und Baunatals Erste Stadträtin Silke Engler moderierten in der Baunataler Stadthalle eine „Power-Point-Fernsehshow“ über 60 Jahre Werksgeschichte. Eine Geschichte, die ganz Nordhessen geprägt hat und ohne die es die Stadt Baunatal gar nicht gäbe. Die Rollenverteilung des „Moderatorentrios“ war beruflich vorgegeben:
Gemeinsame Geschichte mit Auf und Ab
Silke Engler übernahm es, die Geschichte der Stadt auf dem Zeitstrahl der Werksentwicklung abzubilden. Thorsten Jablonski skizzierte vom Bau der ersten Hallen über die Getriebe- und Teileproduktion bis zum Status als Leitwerk für die E-Mobilität – nach der VW-Entscheidung für den Vorzug des elektrischen Antrieb (vor allen anderen Motoren), damit auch zum Taktgeber für den Konzern – die Geschichte des zweitgrößten Werksstandortes in Deutschland. Und das, wie Carsten Bätzold eindrücklich schilderte, wo doch 2006 Komponenten zur Disposition standen und damit auch das gesamte Baunataler Werk. Protestieren oder Gestalten war für die Belegschaft damals die Frage. Professor Helmut Becker und der Betriebsrat haben gemeinsam gestaltet und prompt kamen für den größten Automobilbauer der Welt fortan wesentliche Impulse aus Nordhessen.
Baunataler Getriebe waren dank der hohen Effizienz der Produktion in den 2000er Jahren tatsächlich immer noch billiger als solche aus China.
Stadtentwicklung symbiotisch mit der Werksentwicklung
Ohne Volkswagen wären Altenbauna, Kirchbauna, Rengershausen und Altenritte wohl noch immer vier kleine Dörfer, unscheinbar, bäuerlich geprägt und vermutlich Wohnorte für Pendler nach Kassel, wie die anderen Orte rund um die Großstadt. So war, wie Silke Engler chronologisch schilderte, das Werk auch prägend für die Stadt. Die wiederum war mit ihrer explodierenden Infrastruktur, ihren Sport- und Freizeitstätten, ihren schon lange kostenlosen Kindergärten und der Bildungskette von der Geburt bis zum Eintritt ins Berufsleben, zugleich Garant für eine zufriedene Einwohnerschaft und damit idealer „Nährboden“ der kontinuierlich erfolgreichen Standortentwicklung für VW. Eine echte Symbiose!
Als sich Großenritte den vier genannten Gründungsdörfern anschloss, kam die junge Stadt auf 11.705 Einwohner. Das Werk hatte zu dieser Zeit 17.000 Beschäftigte. In der Ölkrise wurden es über 3.000 weniger. Den höchsten Beschäftigungsstand erreichte das Werk 1986: 20.500 Menschen arbeiteten bei VW in Baunatal. Ende der 80er Jahre fertigten sie sogar Getriebe für andere Autohersteller, unter anderem Nissan.
Fernwärme für die Stadt
In die Stadthalle waren alle gekommen, die das Werk und die Stadt auf ihrem Weg begleitet haben. Führungspersönlichkeiten aus dem Werk und aus der kommunalen Administration. Martin Hesse, einst Bürgermeister war da und mit ihm auch die Erinnerung an zwei Jahre 2. Bundesliga des KSV.
Getriebe und Ersatzteilfertigung waren die Schwerpunkte der 60jährigen Geschichte. Aber auch Katalysatoren wurden in Baunatal gefertigt. 1986 entstand ein neues Schmelzwerk. Schrott wird seitdem wieder eingeschmolzen. Erstmals gab das Werk die erste Fernwärme ab.
Volkswagen, da weiß man was man hat!
Volkswagen, da weiß man was man hat! Dieser alte „Reklamespruch“ war vertrauensbildend für Stadt und Werk. Ereignisse wie die „Sintflut“ von 1992, das Jahrhunderthochwasser, schweißten zusammen und bewirkten Innovationen. 2000 wurde die Stadt mit ihrem Hochwasserschutzkonzept Expo-Außenstandort und der Unistandort für die Metallformgebung „Metakus“ bei VW lassen die Stadt auch in den Hochschulverzeichnissen auftauchen.
Seit fast 25 Jahren fährt schon die Straßenbahn mitten durch Baunatal. Mit dem OTC wechselte VW über die A49: Beginn der Aftersales. Inzwischen heißt das Werk nicht nur Werk Kassel, sondern ist auf dem alten AEG Gelände in der Lilienthalstraße auch endlich in Nordhessens Metropole angekommen.
Noch zweimal Krise und gleichzeitig Zukunftsvisionen
Noch zwei Krisen folgen: 2008 in der amerikanischen Immobilienkrise mit abermals nur noch 13.000 Beschäftigten und aktuell im Dieselskandal, der sich weniger beschäftigungspolitisch oder produktionsschädlich auswirkt, allerdings für Gefahr im städtischen Haushalt sorgt. 28.296 Einwohner sind heute davon abhängig. Ein toter Planet hat keine Jobs, resümieren die Volkswagen-Vertreter und daher setzten sie auf E-Mobilität, auch als Antwort auf die Diesel-Krise. „Wenn du fällst werde ich dich auffangen, ich werde warten, wieder und wieder (Time after Time).“ Unter anderem mit diesem Lied von Cindy Lauper gaben Soulsonic – Romana Reiff und Michael Müller – der Veranstaltung den musikalisch-festlichen Rahmen. Der Eintrag ins Goldene Buch der Stadt war der Höhepunkt.
Vor der Stadthallen-Tür warteten zwei symbolhafte Modelle: Ein VW-Bus aus den 60ern und der E-Up als Kontrast. Zum 60sten gibt es kein Volksfest – ein Sicherheitskonzept wäre zu umfangreich. Aber auch zum Familienfest werden bis zu 70.000 Mitarbeiter und Angehörige im Werk erwartet. (rs)