BAUNATAL. Es ist alles anders, wenn ein Mensch in jungen Jahren oder in der sogenannten Blüte seines Lebens pflegebedürftig wird, als wenn dies in einem Alter weit jenseits des Renteneintrittsalters geschieht.
Für pflegebedürftige Chorea Huntington-, Schlaganfall-, Multiple Sklerose (MS)- und Morbus Parkinson-Patienten oder Unfallopfer mit 18, 28 oder selbst mit Mitte 50, ist der Alltag ein anderer, als mit 80 oder 90 Jahren.
Das beginnt bei unterschiedlichen Hobbys, erstreckt sich über einen vermutlich abweichenden (Musik-) Geschmack und endet schließlich bei den alltäglichen Gewohnheiten. Wer sich aus Lust und Laune um 22 Uhr eine Pizza bestellen möchte, mit Mitbewohnern oder Freunden von außerhalb Musik machen möchte oder morgens einfach mal lange schlafen will, ist im Altenheim schlecht aufgehoben und Wohnheime für Körperbehinderte sind nicht auf Pflege vorbereitet. Oft ist der Krankheitsverlauf mit Persönlichkeitsstörungen verbunden, auf die Altenpflegeheime gar nicht eingehen können.
Bisher nichts Halbes und nichts Ganzes von 18 bis 64
Schon seit Jahrzehnten wird es bei zunehmender Pflege-Spezialisierung in den klassischen Pflegeeinrichtungen schwieriger, auf Bedürfnisse junger, pflegebedürftiger Menschen einzugehen. Viele Jahre haben Politik und Kostenträger das Problem versucht zu ignorieren, die Betroffenen kamen irgendwo unter oder Einrichtungen entstanden aus der Not, ohne wirklich für die Pflege junger Menschen geeignet zu sein. Nichts Halbes und nichts Ganzes also.
Am Dienstag ist unter der Trägerschaft des Gertrudenstifts Baunatal-Großenritte die bundesweit erste nur für diesen Zweck – also nach dem Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI) pflegebedürftige 18 bis 64-jährige – gebaute Einrichtung eröffnet worden. Hier wird nicht nur gepflegt, sondern auch unterstützt und assistiert. Ziel ist ein möglichst selbstbestimmtes Leben. Dazu gehört es, sich am persönlichen Bedarf zu orientieren und sowohl individuelle Angebote, als auch soziale Eingliederung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu entwickeln.
Phase F – 30 Plätze mit individueller Förderung
30 Bewohner finden zukünftig in drei Wohnbereichen Platz, in denen auch Lebensplangestaltung, Selbsthilfetraining, Förderung der Mobilität sowie der sozialen Beziehungen oder die Förderung von selbstbewussten Verhalten und Selbstständigkeit möglich sein werden. Neben den Bewohner-Zimmern mit eigener Nasszelle gibt es Wohn-, Ess- und Bewegungsflächen, Therapieräume, einen Snoezelen-Raum und ein Besucherzimmer.
Feierlich wurde die Einrichtung mit einem Gottesdienst eröffnet. Der Vorsitzende des Vereins, Lothar van Eikels, dankte anschließend den Gremien für ihren Mut, die erste Einrichtung dieser Art (Phase-F nach dem Phasenmodell der Pflege genannt) in Baunatal zu bewilligen. „Auch Angehörige werden älter und kommen an ihre Grenzen“, betonte er den Bedarf und zugleich die Schwierigkeit: „Es ist eine andere Nummer, als den dementen Großvater in ein Heim zu geben!“
Der letzte Puzzlestein – ökologisch gebaut
Die Einrichtung ist nicht nur in konzeptionell neu, betonte van Eikels, sie sei außerdem ökologisch vertretbar gebaut. Leider würden die höheren Baukosten dafür von den Pflegekassen nicht anerkannt, geringere Kosten im Pflegesatz aber gern berücksichtigt. Auf dem Gelände befinden sich bereits eine Senioren-Pflegeeinrichtung, Betreutes Wohnen und dazu ein Kindergarten.
Bürgermeister Manfred Schaub erzählte, er sei von der ersten Minute an begeistert gewesen und gern habe man den Standort Gertrudenstift durchgesetzt. Es sei ein bisschen, wie bei einem Puzzle, wenn die letzten Steine gesetzt werden. Die vorhandene Infrastruktur könne an diesem Standort mitgenutzt werden. Ängste aus der Nachbarschaft, dass man den Wald nach Fertigstellung nicht mehr sehen würde, haben sich letztlich nicht bewahrheitet. (rs)