MARBURG. Es gibt Begegnungen, die einen fürs Leben prägen. So war das auch bei Bernd Mann und Christian Kenk. Christian ist schwerstbehindert, außerdem Bernds bester Freund, Schützling und Arbeitgeber. Am Samstag, 7. April, um 15:30 Uhr im Erwin-Piscator-Haus erzählen sie aus ihrem Leben.
Diese Geschichte beginnt im Spätsommer 1990. Bernd, damals 20 Jahre alt, leistet seinen Zivildienst in einer Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie in Maulbronn. Hinter ihm liegen Jahre mit zu vielen Partys und wenig Freunden, vor ihm eine Zukunft, von der er nicht weiß, was er mit ihr anfangen soll.
In dieser Zeit begegnet er dem fünf Jahre jüngeren Christian. Der Jugendliche liegt seit einigen Monaten im Krankenhaus, nachdem Ärzte lange über seine Symptome rätselten. Im Alter von sechs Jahren beginnt erst sein rechter, dann sein linker Fuß nach innen zu ziehen. Binnen weniger Wochen quält ihn sein ganzer Körper. Am Ende kann er nicht mehr laufen, später nicht mehr sitzen. Medikamente werden seine ständigen Begleiter.
Die Ärzte sind ratlos. Sie gipsen den Jungen von der Hüfte abwärts ein, um seine unkontrollierten Bewegungen zu stoppen. Eine Tortur. Andere Mediziner glauben, sein Leiden hätte psychische Ursachen und arbeiten mit Belohnungssystemen – Christian darf seine Eltern nur dann sehen, wenn er es schafft, sich ohne Hilfe die Zähne zu putzen oder zu essen. Dass seine Krankheit eine generalisierte Dystonie ist, bei der ein Gendefekt eine Funktionsstörung im Gehirn auslöst, erkennen die Mediziner jahrelang nicht.
Mit Kassettenhören vertreibt sich Christian seine Zeit auf der Kinderstation, am liebsten lauscht er Vogelstimmen. Dann liegt er in seinem Zimmer im Bett, seitlich von ihm Sandsäcke, die seinen schmächtigen Körper stabilisieren, und lernt die Laute zu erkennen: Rotkehlchen, Kuckuck, Specht. Sehen kann der Junge sie meist nicht. Ohne Hilfe kommt er an kein Fenster.
Bernd ist berührt von Christians Schicksal, verbringt auch an seinen freien Tagen Zeit mit ihm. Aus Mitgefühl. Bernd kennt Einsamkeit genauso gut wie Christian, seit seine beiden Schwestern früh starben. Auch er fühlt sich als Außenseiter. Mit jedem Tag, in dem ihre Freundschaft wächst, schwindet die innere Leere.
Mit Bernds knallorangenem Opel Kadett brausen sie an Wochenenden gemeinsam durch die Wälder. Christians Liegerollstuhl laden sie in einen ausrangierten Schweineanhänger. Wenn sie draußen mit dem Liegerollstuhl nicht weiterkommen, nimmt Bernd seinen Freund huckepack und trägt ihn durch die Welt.
Heute, 25 Jahre später, sitzen die beiden an einem meterlangen Holztisch in ihrem Haus im Karlsruher Westen. Hier leben die beiden mit Bernds inzwischen erwachsenen Söhnen. Hinter dem Panoramafenster nieseln feine Regentropfen in den trüben Nachmittag, in das offene Wohn- und Esszimmer fällt milchiges Licht. Christian kniet mit angezogenen Beinen auf einer gepolsterten Sitzfläche, die eigens für ihn entlang der Tischkante montiert wurde. So findet sein zierlicher, fast jungenhafter Körper am besten Halt, die Matratze schont seine oft verspannten Gelenke. Alles an ihm wirkt trotz seiner 42 Jahre zart und zerbrechlich.
Die beiden Männer sehen müde aus. Die vergangenen Wochen haben ihre Spuren hinterlassen. „Wir waren viel unterwegs“, erklärt Bernd. Ihre Geschichte hat er in dem Buch „Schwer behindert, leicht bekloppt“ aufgeschrieben. Für die Lesungen reisten sie quer durch Deutschland. „Es hat aber schon auch Spaß gemacht“, sagt Christian und grinst. Überall in seinem Gesicht, wo der Bart sie nicht versteckt, tauchen Lachfalten auf. Seit Christian zwei Hirnschrittmacher trägt, sind seine unkontrollierten Zuckungen besser geworden, sein Körper viel ruhiger. Weil aber die elektrischen Impulse auch sein Sprachzentrum beeinflussen, spricht er etwas verwaschen.
Auf den ersten Blick haben die beiden Freunde wenig gemeinsam – nicht nur, weil einer von ihnen eine Behinderung hat. Bernds Haare sind nicht mehr ganz so voll, sind grau meliert, er hat kräftige Oberarme und einen breiten Rücken. Seine Miene ist ernster, nicht so verschmitzt wie Christians. Wenn er spricht, gibt er seinen Worten Nachdruck, besonders dann, wenn er über seine Kämpfe mit Behörden und Krankenkassen spricht. Oder darüber, dass Christian häufig wie „ein Kind behandelt wird, bei dem da oben“ – und Bernd tippt mit seinem Zeigefinger gegen seine Stirn – „nicht alles richtig funktioniert.“
Gemeinsam haben die beiden ihren trockenen Humor und das Hobby Birdwatching. Darüber, dass Christians Rolli nicht gerade für Outdoor-Ausflüge gedacht ist, können sie lachen. Darüber, dass manche Menschen sie mal kritisch, mal auch nur neugierig beäugen, zwar nicht, aber an die Blicke haben sie sich inzwischen gewöhnt.
Seit 20 Jahren leben sie unter einem Dach. Christians Pflege ist kostspielig, er benötigt eine Rundumbetreuung. Er kann nicht selbstständig essen, sich nicht alleine anziehen. Zwei Jahre hält Bernd die Doppelbelastung von Beruf und Pflege durch, dann gibt er auf. Erst einmal. Dann kommt ihm eine Idee. Christian schließt mit Bernd einen Arbeitsvertrag und macht ihn zu seinem Angestellten. Sie erkämpfen sich nach jahrelangen Streitereien vor Gericht ein festes Budget für Christians Pflege. Bernd betreut nun Christian von 19 bis 11 Uhr und kümmert sich um alles Organisatorische, tagsüber löst ihn einer der angestellten Assistenten ab. „Behinderte müssen nicht nur versorgt werden – sie sollen auch ein Zuhause haben“, sagt Bernd.
Vor 13 Jahren zogen sie in das alte Haus von Christians Vater. Ein befreundeter Architekt baute es um: Eine Rampe führt zur Eingangstür, über die Christian mit seinem elektrischen Liegerolli per Joystick fahren kann. Dass Bernd sich entschied, für Christian zu sorgen, traf bei Freunden und Familienmitgliedern auch auf Unverständnis. „Du hast doch ein Helfersyndrom, du lebst nicht mehr dein eigenes Leben“, warf man ihm vor. Auch seine Frau wollte Christian in Bernds Leben so nicht akzeptieren. „Aber darum geht es im Leben“, sagt Bernd, „man muss immer wieder Entscheidungen treffen.“ Das wollen die beiden auch Kindern und Jugendlichen mitgeben. Derzeit besuchen sie oft Schulen, um von ihrer Freundschaft zu erzählen.
Wenn die beiden über ihre Freundschaft sprechen, brauchen sie wenige Worte. „Ich bin Bernd für die Freundschaft dankbar, und empfinde sehr viel Respekt“, sagt Christian. Und Bernd ergänzt: „Ich glaube, wir beide wissen einfach sehr zu schätzen, was wir einander haben.“ Sie gehen gemeinsam auf Konzerte, leiden gemeinsam in Zeiten von Liebeskummer und Frauenkrisen und kurven mit dem Wohnmobil durch die Welt. Gerade planen sie ihren nächsten Urlaub per Wohnmobil durch die USA. Ihren Trip möchten sie mit einer Kamera festhalten, damit die Zuschauer sehen, wie es ist, als Behinderter zu reisen. Wie hart, aber auch wie schön Pflege sein kann.
Die Lesung am 7. April findet im Rahmen des 1. Marburger Selbsthilfetags statt. Der Eintritt zum kompletten Programm ist kostenfrei. Die Lesung wird begleitet mit einer induktiven Höranlage und Gebärdendolmetschern.
1. Marburger Selbsthilfetag
Am 7. April, dem Weltgesundheitstag, findet ab 13 Uhr der 1. Marburger Selbsthilfetag unter dem Motto „Selbsthilfe im Wandel“ im Erwin-Piscator-Haus statt. Neben der Lesung von Bernd Mann wird es eine offene Podiumsdiskussion zum Thema Selbsthilfe geben und zahlreiche Selbsthilfegruppen werden über ihre Angebote informieren. Die Veranstaltung richtet sich an alle, die sich für Selbsthilfe interessieren, unabhängig davon, ob sie selbst eine persönliche Verbindung zum Thema haben. Veranstalter sind die Selbsthilfekontaktstelle Marburg sowie Arbeit und Bildung e.V. Finanziert wird die Kampagne von der Stadt Marburg. (pm)