SCHWALMSTADT. Es gibt zu wenig Pflegekräfte in Kliniken, Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten. Was funktioniert, das sind die Abrechnung und die Pflegedokumentation. Interessant ist, dass ein Viertel, bis ein Drittel der Arbeitszeit zur Dokumentation und Abrechnung der Leistungen aufgewendet werden muss und nur dreiviertel bis zwei Drittel tatsächlich für die Patienten zur Verfügung steht. Dokumentation ist gut, Pflege wäre noch besser.
Inzwischen hat fast jeder Deutsche mindestens einen pflegebedürftigen Verwandten oder eine solche Verwandte. Wer die Pflege seiner Angehörigen organisieren muss, wird mit großer Wahrscheinlichkeit schon erfahren haben, wie das ist, wenn eine ambulanter Pflegedienst „Nein“ sagt oder stöhnend gerade noch zusagt, aber die Mängel bereits ankündigt: „Wir haben zurzeit keine Kapazitäten frei!“ Selbst Physio- und Ergotherapeuten, die nach Operationen so wichtig sind, sagen immer öfter: „Suchen Sie sich doch jemand anderes…“ Auf dem Lande fängt außerdem tatsächlich das an, was immer prognostiziert wurde: den Patienten gehen die Hausärzte aus, die Pflege noch organisieren helfen und auch bettlägerige Patienten aufsuchen.
Mit dem Zeitmangel verschwindet allmählich auch der Respekt. Wer sich glücklich schätzen darf, einen Pflegedienst gefunden zu haben, muss sich manches gefallen lassen, was in Zeiten des Überangebotes noch anders war. Pflegeheime geraten immer wieder in Kritik, weil sie im Akkord pflegen müssen und anfangen, die Regeln zu vernachlässigen. Es ist weder ein Spaß alt zu werden, noch ist es lustig, seine Angehörigen zu betreuen und zu begleiten.
Nun ist es ja nicht so, dass niemand absichtlich auf Pflegekräfte verzichtet. Es gibt einfach keine Menschen, die in dieser Branche arbeiten wollen. Da reibt man sich schon verwundert die Augen, woher jetzt 8.000 neue Pflegekräfte kommen sollen, die im Koalitionsvertrag stehen – wenn jungsozialistischer Übereifer diesen nicht noch verhindert?
Die Pflegekassen haben schnell noch einen Skandal mit osteuropäischen Pflegediensten aufgedeckt und alle Heime und Sozialstationen erst einmal ermahnt, anständige Löhne zu zahlen. Haltet den Dieb!? Ich durfte bei den ersten Verhandlungen nach Einführung der Pflegeversicherung 1995 im Schwalm-Eder-Kreis dabei sein. Da wurde nicht über Stundensätze gesprochen. Die Kassen kannten die Anzahl der Pflegebedürftigen, aber auch die Summe aller Einnahmen aus den Beiträgen der Versicherten. Das musste irgendwie passend gemacht werden. Heraus kam ein Entgelt, das von Anfang an nicht kostendeckend war. Diakonie, Caritas, AWO, DRK und andere Verbände mussten ihre – alles andere als üppigen – Tarifverträge auf den Müll werfen, um nicht flächendeckend den Bach runter zu gehen. Die privaten Dienste konnten sofort mit Niedriglöhnen durchstarten.
Bis heute wird nicht nach dem Kostendeckungsprinzip verhandelt und die Patienten müssen im Zweifel zuzahlen. Steigen die Löhne, müssen die Pflegebedürftigen mehr zuzahlen und wenn’s schlimm kommt Sozialhilfe – in welcher Form auch immer – in Anspruch nehmen. Wir sollten den Pflegebedürftigen in diesem Lande sagen, dass die 8.000 Fachkräfte (die auch gar nicht reichen) erst drei Jahre lang ausgebildet werden müssen und dass sie diese dann durch Zuzahlungen auch selbst werden finanzieren müssen. Oder die Beitragszahler durch höhere Beiträge oder Steuern.
Oder wir entscheiden, die Bundeswehr ganz abzuschaffen und auf schlechte Straßen, schöne Schulen und barrierefreie Bahnhöfe zu verzichten. Wir Wähler können noch eine Weile rechte und linke Extremparteien wählen, die uns jeden Blödsinn versprechen, den wir hören wollen, weil sie ihn nie umsetzen müssen oder anfangen uns alle mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen…
Ihr
Rainer Sander