SCHWALMSTADT. „Probleme sind nur dornige Chancen“, sagte der Schüler Christian Lindner 1997 in einem Beitrag des Jugendmagazins „100 Grad“ (https://www.youtube.com/watch?v=w0rL6Ju9H2Q). Der sehenswerte Beitrag über ihn und einen Mitschüler wurde gefilmt, weil sie, noch in der Schule, ein eigenes Unternehmen gegründet hatten. Getreu dem Motto, dass jeder wohl seines eigenen Glückes Schmied sei – Lindner war schon damals ein liberales Vorzeigebeispiel.

Heute, Jahrzehnte später, sehen sich der FDP-Vorsitzende Christian Lindner mitsamt der Bundesregierung, deren kleinster Koalitionspartner die FDP ist, und die Bundesrepublik einer Vielzahl von Problemen ausgesetzt. Sie reichen von einem völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine hin zu steigenden Energie- und Verbraucherpreisen. Ganz zu schweigen von der sich immer weiter zuspitzenden und nicht zuletzt durch den bedenklich niedrigen Pegel des Rheins sowie Waldbrände in Südeuropa abzeichnenden Klimakatastrophe, auf die wir, Stand jetzt, unaufhaltsam zusteuern. Nun sollten wir den Nutzen erkennen, der darin liegt, die jetzigen Krisen und Probleme für fundamentale gesellschaftliche Umbrüche zu nutzen: Ziel darf es deswegen nicht sein, den Status quo abzusichern, sondern stärker aus den Krisen zu gehen, als man in sie hineingeraten ist, die gewonnen Erkenntnisse zu nutzen und gleichzeitig den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu riskieren, sondern im Gegenteil: ihn zu sichern.

Es ist angesichts der Herausforderungen erstaunlich, dass es der FDP gelingt, trotz ihrer derzeitigen Verantwortung für die Bundesrepublik, sich auf ihren Markenkern – die Klientelpolitik – zu besinnen: keine Steuererhöhungen, weiteres Verharren auf der Schuldenbremse ab 2023, wenngleich gerade jetzt hohe Investitionen anstehen, erst recht kein Tempolimit und von einer Übergewinnsteuer wollen sie, leider ähnlich wie der sozialdemokratische Kanzler, wenig bis gar nichts hören. Im Gegensatz dazu haben das Vereinigte Königreich, Italien und andere Länder schon eine Übergewinnsteuer zur Stabilisierung ihrer Staatshaushalte eingeführt.

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Ebenso auf ihre Klientel ist die Ablehnung der Weiterführung des 9€-Tickets sowie die Einführung des Tankrabattes bezogen. Ähnlich verhält es sich mit dem Beibehalten des Dienstwagenprivilegs (mit dessen Abschaffung bis zu drei Milliarden Euro gespart werden könnten) und dem Ausgleich der kalten Progression, der zwar erwiesenermaßen Geringverdiener*innen prozentual mehr hilft als anderen, aber in absoluten Zahlen doch besonders den Besserverdiener*innen. Blöd nur: Die absoluten Zahlen sind entscheidend, um ein Brot zu kaufen oder die Wohnung zu heizen. Mit Prozentpunkten kann man nichts kaufen.

Hierbei geht es, um etwaigen Kommentaren vorwegzugreifen, nicht um Sozialneid oder Ähnliches, sondern darum, diejenigen, die tendenziell am wenigsten und keine Ersparnisse haben, mit Hilfe, derer sie sich eine warme Wohnung leisten können, am meisten zu helfen.

Immer wieder, zuletzt bei der Lieferung von (schweren) Waffen an die Ukraine oder der Verlängerung der Laufzeit deutscher Atomkraftwerke, schafft(-e) es die FDP gerade von den Grünen, „ideologiefreie“ Debatten einzufordern, bleibt aber selbst Diskursen teilweise gänzlich verschlossen. Und dies mit bisweilen fadenscheinigen und man muss es in aller Deutlichkeit sagen: lächerlichen Argumenten, wie dem Mangel an Schildern zur Durchsetzung eines Tempolimits. Sich einen größeren Hohn gegenüber Befürwortenden ebendieser Maßnahme auszudenken, bedarf eines hohen Grads an Fantasie: Vielleicht gibt es ja bald neue „Argumente“ aus dem FDP-geführten Bundesverkehrsministerium gegen ein Tempolimit: zum Beispiel, dass deutsche Autos gar nicht unter 140 oder 150 km/h fahren können, der Asphalt der Autobahnen bei einer Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h in Windeseile kaputtgehen würde oder die Bürger*innen dieses Landes erst bei 140 km/h die Freiheiten einer liberalen Demokratie spüren.

Es wäre zu wünschen, dass die FDP aus ihrer ideologischen Burg herauskommt und sich mit sachlichen (!) Argumenten „ideologiefrei“ dem Diskurs öffnet; so fordert sie es schließlich auch von anderen. Dies würde nicht zuletzt den Zusammenhalt der Bundesregierung und das Vertrauen in ebendiese stärken, falls die Bürger*innen der Bundesrepublik bemerken, dass es der FDP, deren Rolle in der (west-)deutschen Geschichte nicht unterschätzt werden darf, um Sachpolitik und einen objektiven Diskurs ginge.

Vielleicht erkennen auch Christian Lindner und seine Parteiangehörigen, dass sich hinter jedem Problem dornige Chancen verbergen, wenn man sie sich und mögliche Lösungen doch nur ideologiefrei anschaut.

Ihr

Linus Dietrich

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