ANDERSWELT. Die heutige Nacht von Montag auf Dienstag ist der Zeitpunkt, an dem die Kinder von Haus zu Haus ziehen, „Süßes oder Saures“ fordern und das mit gruselig geschminkten Gesichtern und Kostümen zwischen ausgehölten Kürbissen mit eingeritzten Fratzen. Die Kinder haben Spaß, spielen Rollen, von denen sie wissen, dass es nur ein Spiel ist, und leben ihre Kreativität aus. Das haben Kinder schon immer gemacht, auch in der „Guten Alten Zeit“ und in allen Zeiten davor.

Wenn Kinder Dämonen spielen, sind sie genauso wenig Dämonen, wie sie eine Eiskönigin sind, wenn sie Elsa und Anna spielen oder zum Husky werden, wenn sie Everest oder Skye von Paw Patrol spielen.

Die Erwachsenen mit Ihrer gelebten Vernunft, versuchen indes gelegentlich im Teufelskostüm zu dem Teufel zu werden, der sie sonst nicht sein können oder Geister zu verteufeln, weil diese in einem aufgeklärt christlich abendländischen Weltbild keinen Platz haben dürfen. Erst in diesem Moment beginnt tatsächlich die Dämonisierung! Also, wer ist der eigentliche Dämon? Der Geist, den es gar nicht gibt? Oder die Verteufelung eines heiter-ironischen Rituals? Die deutsche Sprache ist sehr eindeutig.

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Die Wochen vor Halloween hören wir stets ein anderes Ritual. Die Klagen aus beiden Kirchen und von frommen Menschen. Als hätten wir doch so etwas wie eine Staatsreligion, die über unsere Sitten wacht. Tatsächlich sind die Rituale im katholischsten Land Europas, nämlich in Irland entstanden. Ein Land, in dem nicht nur Abtreibungen, sondern auch Scheidungen – religiös begründet – erst vor wenigen Jahren erlaubt wurden, aber die Gesetze längst nicht so liberal geworden sind, wie hierzulande. Tief katholische Iren, die in den Jahren des irischen Hungers (Kartoffelpest) als „Wirtschaftsflüchtlinge“ in die USA ausgewandert sind, haben den Kult mitgenommen nach Amerika. Von dort ist er nun nach Europa zurückgekehrt.

Für unsere Vorfahren waren die Tage Anfang Mai und Anfang November die Wendepunkte im Jahr. Der Eintritt in die helle oder jetzt die dunkle Jahreshälfte. Die Chatten und Kelten hatten keine Lichtschalter in den Hütten und keine Straßenlampen. Die Herbst- und Winternächte waren wirklich lang und mächtig dunkel. Und es fiel mehr Schnee und war kälter. Da entstehen auch Ängste. Es gab keine Supermärkte, in denen die Menschen hätten einkaufen können. Was bis jetzt nicht bevorratet war, könnten sie nicht mehr beschaffen. Der Hunger gehörte im Winter zum Leben. Natürlich gab es Sorgen, dass jemand Vorräte stiehlt.

Auch in der Vorzeit wussten die Menschen nicht, was nach dem Tod kommt. Sie dachten, dass es eine jenseitige Welt gibt, in der gestorbene Menschen weiterleben. Zwischen Nichtwissen und Überlebenskampf entstanden über Jahrhunderte Mythen von einer Anderswelt, zu der irgendwann die Türen aufgehen. Daher kommen die Halloween-Riten. Wie auch wir heute immer einen Schuldigen brauchen für alles, was auf dieser Welt Merkwürdiges passiert, war es für Kelten und Germanen schön zu wissen, dass Missernten und andere Widrigkeiten aus der Anderswelt gesteuert wurden. Später war es der Teufel, dann die Hexen und heute sind es die Politiker, die an allem Schuld tragen. Wer seine Vergangenheit nicht kennt, ist gezwungen, sie zu wiederholen, heißt es in der modernen Psychologie (Wiederholungszwang) …

Ich rate zu einer entspannten Sicht auf die Dinge. Wir scheitern seit Jahrtausenden nicht an den Dingen, die uns stören, sondern nur an unseren Erwartungen und Wünschen. Diese können wir aber steuern. Also: Süßes oder Saures?

Ihr

Rainer Sander

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