MARBURG. Vor der Bundestagswahl, vor zehn Tagen also, schloss der Kanzlerkandidat von CDU/CSU – Friedrich Merz – noch aus, einem (erneuten) Sondervermögen für den dringenden Investitionsbedarf in die deutsche Infrastruktur oder die Bundeswehr zuzustimmen. Ebenso klar war die Meinung der (Bundes-)CDU zu einer möglichen Lockerung der Schuldenbremse:

Notwendige staatliche Investitionen sollten nicht durch neue Schulden finanziert werden, sondern die dafür notwendigen Mittel sollten durch eine Steigerung der Standortattraktivität Deutschlands für Investitionen und erneutes Wirtschaftswachstum generiert werden. Die Forderungen nach einer Lockerung der Schuldenbremse kamen dabei nicht nur aus den rot-grünen Regierungsfraktionen, sondern auch von zahlreichen CDU-Ministerpräsidenten und christdemokratischen Landespolitikerinnen und -politikern. Doch auch auf deren Plädoyers reagierte man im Adenauer-Haus nicht mit einer Relativierung der eigenen Position.

Dafür gab es mindestens zwei Gründe. Erstens wollte die Union der FDP kein Wahlkampfgeschenk machen, indem sie einer Reform der Schuldenbremse zustimmte. Hätte die Union gemeinsam mit dem Rest der Bundesregierung für eine Aufweichung der Schuldenbremse gestimmt, wäre die FDP die einzige Partei im demokratischen Spektrum gewesen, die für die Beibehaltung der Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form plädiert hätte. Um den Freien Demokraten dieses Feld und Alleinstellungsmerkmal nicht zu überlassen, hat man sich einer Reform verweigert.  

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Ähnliches gilt für den zweiten Grund, der ebenfalls wahlpolitisch motiviert war. So wollte die Union der rot-grünen Rest-Ampel kein Wahlgeschenk machen, indem sie in der Diskussion um die Schuldenbremse oder mögliche Sondervermögen nachgibt. 

Kurzum: Solange die Union nicht selbst mit einem Bein im Kanzleramt stand, wollte sie sich trotz der offensichtlichen Gefahr, dass eine 2/3-Mehrheit für eine Reform der Schuldenbremse und die Verabschiedung eines neuen Sondervermögens im neu gewählten Bundestag nur schwer zu erreichen sein würde, nicht zu einem dieser Punkte oder gar zu beiden durchringen. Dass der Investitionsbedarf in Infrastruktur und Bundeswehr erschreckend hoch ist, war allerdings schon vor der Bundestagswahl klar.

Welche Rahmenbedingungen haben sich seitdem verändert, die den Sinneswandel aufseiten der Union erklären könnten? Keine, zumindest aber keine unvorhersehbaren. Auch nicht, dass Donald Trump versucht, die Ukraine durch den Stopp amerikanischer Militärhilfen und das öffentliche Vorführen des ukrainischen Präsidenten, die Ukraine auszubeuten und an den Verhandlungstisch zu nötigen. Vielleicht war das in der neoimperialen Dramaturgie, die sich im amerikanisch-ukrainischen ‚Rohstoff-Deal‘ offenbarte, nicht vorhersehbar: Aber die Grundrichtung einer neuen Trump-Administration war schon lange vor dessen Wahlsieg von den einen versprochen, von den anderen befürchtet worden.

Also: ein erneuter Versuch, die Frage nach den veränderten Rahmenbedingungen zu beantworten. Dieses Mal fällt die Antwort eindeutiger aus: Die Bundestagswahl ist vorbei, die Mehrheitsverhältnisse eindeutig und Friedrich Merz muss sich jetzt schnell darum kümmern, eine Regierung zu bilden und Geld zu investieren. Dass die zur Rede stehenden Summen von mehreren hundert Milliarden Euro nicht nur durch perspektivisches Wirtschaftswachstum gestemmt werden können, ist jetzt aber auch im Adenauer-Haus angekommen. 

So weit, so gut. Nur gibt es ein Problem. Die Mehrheitsverhältnisse im neu gewählten Bundestag haben sich durch die Wahl grundlegend verändert. Eine 2/3-Mehrheit kann im neuen Bundestag nur noch mit den Stimmen der Linkspartei oder der AfD erreicht werden. Dass eine Zusammenarbeit der demokratischen Parteien mit der AfD absolut ausgeschlossen ist (genauer gesagt sein muss), ist klar und unstrittig, zumal die AfD ohnehin gegen jede Form der Neuverschuldung ist. Dass der Schatten, über den die Union springen müsste, um mit der Linkspartei zu koalieren, zu groß ist, ist wiederum rational nicht zu erklären, und irritierend.

Ein neues Sondervermögen einzurichten, wie es Union und SPD jetzt planen, ist wichtig und richtig. Aber: Es ist auch zu spät. 

Es ist das Glück demokratischer Systeme, dass Macht auf Zeit verliehen wird – bei Bundestagswahlen für vier Jahre, bei Europa-, Landtags- und Kommunalwahlen für fünf beziehungsweise sechs Jahre. Im Laufe einer Legislaturperiode nimmt die demokratische Legitimation einer Regierung zusehends und zwangsläufig ab, weil sich die (wahlberechtigte) Bevölkerung verändert: Junge Menschen kommen hinzu, weil sie 16 oder 18 Jahre alt werden, andere sterben oder können aus anderen Gründen nicht mehr wählen.

Dass der demokratische und praktische Rückhalt von Wahlen sukzessive abnimmt, zeigen nicht zuletzt die stark unterschiedlichen Ergebnisse zwischen den Bundestagswahlen 2021 und 2025. Wenn sich Union und SPD jetzt also gemeinsam mit Grünen und FDP darauf verständigen, ein neues Sondervermögen zu beschließen, dann ist das in der Sache vollkommen richtig. Aber der Weg dorthin – nämlich eine Sondersitzung des aktuellen Bundestages (voraussichtlich in der kommenden Woche), dessen Abgeordnete noch so lange im Amt sind, bis sich der neue Bundestag konstituiert hat (voraussichtlich in der darauffolgenden Woche) – ist fatal und strapaziert die (gewohnten) Regeln des demokratischen Miteinanders immens. 

Dieser Beitrag bläst nicht etwa in das Horn der „Die da oben“-Brüller und AfD-Wähler, deren Vertreterinnen und Vertreter die Demokratie und ihre Strukturen in den deutschen Parlamenten lächerlich machen und sie gefährden. Im Gegenteil: Er ist ein Plädoyer für die Achtung demokratischer Prinzipien und dafür, auch schon vor einer Wahl über die Zeit nach der Wahl nachzudenken. 

Der Schaden aber, der sich insbesondere aus dem Vorgehen der Union und (wiederum etwas abgemildert) der anderen Parteien ergibt, ist derzeit nicht absehbar, das Signal für die kommende Legislaturperiode und darüber hinaus ist allerdings in mehrfacher Hinsicht verheerend.

Ihr
Linus Dietrich

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