FRIELENDORF. Nun ist es endlich amtlich! Wir dürfen uns gnadenlos beleidigen! Sie mich, ich Sie, wir unsere Nachbarn. Ein allmorgendlicher Gruß für Ihren Boss: „Du Drecksack, halt die Fresse, statt guten Morgen Chef“, hat enorme Auswirkungen auf das Betriebsklima.

Wenn das erlaubt ist, weil wir alle unsere Meinung äußern dürfen und unseren Chef nicht zwangsläufig auch mögen müssen, denn das ist arbeitsrechtlich nicht einklagbar, geht demnächst vielleicht ganz viel!

Da ärgern sich die ganzen Hassprediger, dass die Justiz in Deutschland zu lasch ist und mehr Verständnis für die Täter, als für die Opfer zeigt. Zu Recht? Immerhin: auch diese Täter bekommen die ganze Kraft der Samthandschuhe zu spüren. Wir leben in einer Art Renaissance der Renaissance. Auch damals taten sich die Menschen fürchterlich leid und bedauerten sich gerne gegenseitig.

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Nun hat ja alles immer zwei Seiten: zum einen ist das Urteil noch nicht rechtskräftig, es war zunächst „nur“ die erste Instanz. Vielleicht wollten die Richter sogar bewusst eine höchstrichterliche Entscheidung ermöglichen und herbeiführen? Auch wenn das abwegig erscheint. Oder wollten sie den Politikern in Deutschland mitteilen: „Wenn ihr nicht beleidigt werden wollt, dann macht anständige Gesetze“? Gut, wir sind bisher immer davon ausgegangen, dass eine Beleidigung eine Beleidigung ist und nicht – dem Zeitgeist entsprechend – gerade abschmilzt. Zum anderen hat es die Gesellschaft in der Hand, wie sie miteinander umgeht. Es ist vielleicht an der Zeit, dass Eltern ihren Kindern wieder selbst erklären, wie man miteinander spricht, sich dabei nicht auf Erzieherinnen im Kindergarten oder Lehrer in der Schule verlässt und vor allem ein gutes Vorbild ist.

So, wie wir mit unseren Nachbarn, Bekannten, Freunden und Verkehrsteilnehmern auf der Straße umgehen, so werden es unsere Kinder lernen und irgendwann genauso reden – vielleicht sogar mit uns – …

Es zwingt uns ja keiner andere zu beleidigen oder ausfallend zu werden und wenn das nur eine Handvoll Menschen tun, die ihre Emotionen nicht im Griff haben, dann stehen diejenigen eben aber auch außerhalb der Gesellschaft.

Andererseits, wenn alle irgendwann nur noch hassen, rumrotzen und beleidigen, ist es ja auch wieder normal. Dann ist die Umgangssprache eben so und es stört auch niemanden mehr. Auch wenn’s nicht unbedingt schön ist. Welche Variante wäre besser?

Ihr

Rainer Sander

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