MARKTFLECKEN FRIELENDORF | REFORMATIONSSTADT HOMBERG | KONFIRMATIONSSTADT SCHWALMSTADT. Alle Jahre wieder kommt nicht nur das Christuskind mit dem Weihnachtsmann, sondern auch Sankt Nikolaus, der Osterhase, der Sommer, der Winter, 12,3-Mal der Vollmond, die Hexen auf dem Blocksberg und die Geisterfratzen zu Halloween. Vor allem Kinder lieben Rituale. Ob lustig oder ernst, gut oder böse, es ist ein Spiel. Kinder haben Fantasie und spielen Rollen.

Im Gegensatz zu (uns) Erwachsenen wissen Sie sogar, dass es nur ein Rollenspiel ist und nicht die Realität. Im nächsten Moment sind sie wieder Kinder. Aber später werden auch sie vermutlich glauben, dass sie die Rolle(n), die sie im Leben spielen, tatsächlich selbst sind. An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit (oder Unsterblichkeit)?

Eigentlich ist heute nur der 31. Oktober des Jahres 2023. Heute vor drei Jahren wurde der Flughafen BER nach kurzer Bauzeitüberschreitung und 14 Jahren „im Bau“ eingeweiht, zufällig am Geburtstag des letzten Planungsverantwortlichen Engelbert Lütke Daldrup. „In den Bau“ ging 1756 Giacomo Casanova in Venedig, verurteilt wegen Magie, Freimaurerei und Gottlosigkeit. Da schau her! Und genau am magischen und gottlosen 31. Oktober gelang ihm die Flucht. Alle Achtung!

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Tatsächlich nahm heute vor zwölf Jahren die UNESCO Palästina auf und am selben Tag vor 17 Jahren sahen sich DFB und DFL genötigt, eine Taskforce zu gründen, um Rassismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in Fußballstadien zu begegnen. In der Tat bereits 9 Jahre vor 2015. 5 Jahre zuvor hatte Ronald Schill, sozusagen der Patenonkel aller Alternativen für Deutschland, das Amt des Innensenators in Hamburg übernommen. Es ist der Tag der Déjà-vus?

Peter Jackson, neuseeländischer Regisseur des magischen und mystischen Epos „Herr der Ringe“, erblickte am 31. Oktober 1961 das Licht der Welt, Sean Connery verließ sie an diesem Tag vor drei Jahren. Ein bisschen wie Magie wirken auch die Präsidentenköpfe von Mount Rushmore, die tatsächlich nicht für eine Deep-Purple-Plattenhülle in Stein gemeißelt, aber am 31. Oktober 1941 fertiggestellt wurden. Die Künstler und Baumeister brauchten dafür übrigens ebenfalls 14 Jahre (die magische 2 × 7), wie die Erbauer des Hauptstadtflughafens. So schließen sich Kreise …

Alles am 31. Oktober, an dem wir gleichzeitig Reformation, Halloween und den Vorabend zu Allerheiligen feiern. Würde Martin Luther heute noch leben, vermutlich würde er zu den ersten gehören, die wütend einen Kommentar unter diesen Text schreiben. Oder unter irgendwelche anderen Texte in diesem Portal oder bei Insta. Er war so ein kleiner stichelnder Hater, der Juden nicht besonders mochte und Frauen nicht recht ernst nehmen konnte. Aus Ärger, dass ihm niemand zuhören wollte, nagelte er 95 Thesen gegen die Ablass-Sitten an eine Kirchentür. Am 31. Oktober. Das war 1517. Etwas mehr als 450 Jahre später, am 31.12.1971, durften Frauen in der Schweiz erstmals bei einer Wahl ihre Stimme abgeben, nachdem die Männer dafür als Volk abgestimmt hatten.

Am selben Tag, nur vier Jahre davor, wurde ebenfalls in der Schweiz der erste Geldautomat in Betrieb genommen. Teufelswerk! Auch an einem 31. Oktober wurde die erste Wasserstoffbombe gezündet, Mussolini Ministerpräsident und Indira Gandhi ermordet. Nicht alles war schön an diesem Tag in der Vergangenheit.

Manche Errungenschaft ist nicht die gute alte Tradition, der wir folgen müssen, sondern teilweise ganz schön modernes Zeugs, während manch modernes Zeug in Wirklichkeit uralt ist. So ist das Schnitzen von Kürbisgesichtern und das Verkleiden zum Rollenspiel als lebende Tote nicht nur ein „Modefest“ aus Amerika. Tatsächlich ist der Name Halloween nichts anderes als ein christliches Wortspiel zu „All Hallows Evening“ (zu Deutsch: Vorabend von Allerheiligen) und geht in seinem Ursprung auf das keltische Neujahrsfest Samhain zurück. Damit auf einen Tag, an dem die Tore zur Anderswelt aufgingen, sich zugleich Wesen aus dem Jenseits unter Wesen im Diesseits mischen konnten. Natürlich auch umgekehrt! So mancher Bösewicht fühlte sich zur Verkleidung berufen, um nicht erkannt und mitgenommen zu werden auf die andere Seite. Eigentlich eine Brücke zwischen dem sogenannten Heidentum und dem christianisierten Europa.

So genau weiß man das zwar nicht, weil die Kelten hierzulande auch dann nichts über ihre Riten und Traditionen aufgeschrieben haben, als ihre gelehrten Druiden längst die lateinische Schrift beherrschten und lesen konnten. In der keltischen Renaissance in Irland wurde später eine Menge dazu aufgeschrieben. Und es waren die irischen „Wirtschaftsflüchtlinge“, die den Mythos Halloween (Samhain) in ihren Schiffen, die etwas seetauglicher waren als die Boote heutiger Flüchtlinge im Mittelmeer, mit nach Amerika nahmen. Mitunter das Einzige, was sie mit an Bord nehmen konnten. Mehr als ein Drittel seiner Bevölkerung hatte Irland in den Jahren von 1845 bis 1849 während der großen Hungersnot aufgrund der Kartoffelfäule verloren. 1 Million verhungerten, 2 Millionen wanderten in die USA aus, weil es dort genug zu essen gab. Viele hatten Haus und Hof verloren, weil sie die Pacht nicht mehr zahlen konnten und die Engländer sie vertrieben und ihre Häuser niederbrannten.

Kaum eine andere Bevölkerungsgruppe hat Amerika so geprägt wie die Iren als zweitgrößte Bevölkerungsgruppe (übrigens nach den Deutschen). Jeder zehnte US-Amerikaner hat irische Wurzeln. Und seit ein paar Jahren kommt das irisch-keltische Ritual über den wilden Atlantik zurück nach Europa.

Und alle Jahre wieder kommt der Aufschrei pünktlich unter christlichen Religionswächtern, die an diesem Tag fast genauso über den einzig richtigen Glauben sinnieren wie islamische Religionswächter, wenn sie von den „Heiden“, also den „Gottlosen“ sprechen. Ich fürchte, dass sich Gott nicht vorgenommen hatte, erst dann Gesetze und Regeln aufzustellen, als Menschen – und schließlich zuerst Mönche wie Martin Luther – des Lesens und Schreibens mächtig waren. Ich gehe davon aus, dass der Herr im Himmel schon 1 Million Jahre vorher die Menschen lieb gehabt hat und deren religiöse Rituale genauso gottgesegnet waren wie heutige. Vielleicht wollte er gar keine Regeln. Das haben die Menschen übernommen, als sie glaubten, besser als Gott zu wissen, was göttlich ist und was nicht. Niemand merkt, dass der Turm von Babel immer noch steht und jedes Jahr ein bisschen höher wird. Gerade jetzt …

Wenn es heute Abend an der Tür klingelt und ein paar Kinder geschminkt vor der Tür stehen, mit der Bitte um Süßes oder Saures, dann haben Sie hoffentlich ein paar Weingummis, etwas Schokolade oder was auch immer neben der Tür liegen. Nach einer aktuellen Umfrage von Civey fühlen sich mehr als 20 Prozent der Deutschen von den klingenden Kindern genervt. Ich weiß nicht, wie viele Kinder sich von griesgrämigen Erwachsenen genervt fühlen. Egal: es wäre heute ein guter Tag, die Dinge, die passieren, mit etwas heiterer Gelassenheit zu akzeptieren, weil sich vieles auch dann nicht ändern lässt, wenn wir uns darüber ärgern oder gar die Fassung verlieren.

Ich kann mir keinen besseren Ort vorstellen, um eine Brücke zu schlagen zwischen urkeltischen Wurzeln und vergleichsweise jungen Traditionen, als im „Mutterland der Reformation“. Ohne Homberg (Synode), Ziegenhain (Konfirmation) und Landgraf Philipp wüssten wir heute vielleicht nicht, wer Martin Luther war, weil sonst kaum jemand den Mut hatte, sein Fürstentum zu „reformieren“. In meinem Heimatort Frielendorf hat er übrigens auf dem Weg zur „deutsch-schweizerischen“ Religionskonferenz in Marburg mit Zwingli im Kloster Spieskappel, in dessen Nähe bald Flüchtlinge übernachten, 1529 übernachtet.

Heute wäre gleichzeitig ein Tag, um ganz bewusst eine Rolle zu spielen und danach wieder sehr bewusst durchs Leben zu gehen. Oder hatten Sie heute etwas anderes vor? Ich fürchte, das Leben ist so: es gibt immer Süßes und Saures, so wie auch immer Ebbe und Flut gleichzeitig stattfinden – nur nicht am selben Ort …

Ihr

Rainer Sander

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