FRIELENDORF. Geht Ihnen das auch so? Mich faszinieren gerade die Querdenken-Demos, die so wunderbar Eintracht für oder besser gegen eine gemeinsame Sache zeigen. Sie sind Ausdruck einer gedemütigt wirkenden und unter Dyskalkulie leidenden Minderheit, die sich selbst zur Mehrheit erklärt. Wie geil ist das denn?

Vorweg: ich finde die Einschnitte in die Grundrechte mehr als be- und überdenkenswert, würde mich nie gegen Corona impfen lassen und gehöre durchaus zu den Kritikern von Maßnahmen, die unserer Wirtschaft, der persönlichen Entwicklung von Kindern, der Vereinsamung von behinderten und alten Menschen und der kulturellen Vielfalt in diesem Lande mehr schaden, als sie die Risikogruppen schützen. Das schöne ist, dass ich das genau so sagen darf und dass ich mich darüber kritisch mit Politikern, Wissenschaftlern und Mitmenschen auseinandersetzen kann. Das erlaubt mir unsere Demokratie! Und natürlich stehen in wenigen Minuten die ersten Kommentare unter dieser Kolumne, die das entweder total sch… finden oder richtig geil! Die Mehrheit wird mit den Schultern zucken – stimmt’s? Alles ist möglich!

Schwerer Konsens der Ängstlichen und der Mutigen

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Ich helfe gerne zwei pflegebedürftigen Angehörigen, die heftig unter den einschränkenden Maßnahmen, die fast alle aktivierenden und gemeinschaftlichen Leistungen in Pflegeeinrichtungen verbieten, leiden. Obwohl sie mir beide sagen, dass es ihnen eigentlich egal ist, woran sie sterben, Hauptsache sie können bis dahin noch leben, trage ich selbstverständlich Maske und halte Abstand, bis wir den gesellschaftlichen Konsens gefunden haben, mit dem sowohl die Ängstlichen, als auch die Mutigen leben können.

Fangen wir mit der Million an, die beim letzten Mal bereits auf der Straße gewesen sein soll. Außer, dass solche Menschenmengen schon bei der An- und Abfahrt aufgefallen wären – zu Zeiten der Loveparade sind Sonderzüge gefahren, um der Massen Herr zu werden – würde eine simple Dreisatzrechnung helfen. Wir alle sind zwischen 45 und 55 Zentimetern „schulterbreit“. Wenn wir Schulter an Schulter stehen, passen also demnach zwei von uns auf jedem Meter nebeneinander. Wenn wir ein bisschen Bauch haben oder wenigstens etwas atmen wollen, dann passen vielleicht auf den Meter auch zwei Menschen voreinander. Dann ist es aber schon kaum noch möglich, dazwischen hindurch zu gehen oder in Demonstrations-Formation zu marschieren. Dann geht eigentlich nur stehender Protest. Aber nehmen wir das so mal an, so passen vier Menschen auf den Quadratmeter. Richtig? Und diese vier dürfen keine Berührungsängste haben!

Mal nachgerechnet…

Auf einer Straße, die so zwischen 30 und 40 Metern breit ist, wie die Bundesstraße 2, also die Straße des 17. Juni, beziehungsweise Bismarckstraße oder Kaiserdamm, passen auf den laufenden Meter etwa 140 Menschen im Durchschnitt. Wenn wir großzügig noch zehn draufpacken also 1 Million Menschen durch 150 für jeden „laufenden Meter“ dividieren und am Ende sogar noch abrunden, dann kommen wir auf einen Wert von etwa 6,5 Kilometern Straßenlänge, um die Massen aufzunehmen. Das wiederum hieße, dass genau vom Brandenburger Tor bis zur Überquerung der Autobahn A100, also Höhe Funkturm/Messegelände Menschen auf Tuchfühlung stehen müssten, damit es 1 Million ergibt. Und es sollen ja noch mehr gewesen sein. Bei 1,5 Millionen müsste der Zug schon bis zum Olympiastadion gehen Die Bilder und Luftbilder zeigen, dass der Demonstrationszug nur einen Bruchteil dieser Länge erreicht hat.

Was aber haben nicht rechnen und sich nicht mehrheitsfähig ausdrücken können mit Querdenken zu tun? Die Tatsache, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bewegung offensichtlich unter Dyskalkulie und/oder Ausdrucksschwäche (die Kommentatoren auch unter Lese- und Rechtschreibschwäche) leidet, macht sie nicht zwangsläufig noch unsympathischer. Es erregt aber irgendwie mein Mitleid. Wer so schlecht rechnet und zudem noch so schlecht formulieren kann, dass er oder sie selbst immer wieder von dem Gefühl eingeholt werden, nicht sagen zu dürfen, was er/sie denkt, weil das nur wenige verstehen und die Mehrheit diese Meinung einfach nicht teilen will, wird vermutlich überall im Leben immer wieder missverstanden und fühlt sich frustriert auf die Straße getrieben. Wie gestern eben.

Alle Vögelchen fliegen hoch!

Noch viel spannender ist natürlich dabei die Verbundenheit zwischen frustrierten Linken und Friedensbewegten aus diversen Bewegungen auf der einen und teilweise gewaltbereiten Rechten aus unterschiedlichen Gruppierungen, wie identitären oder/und völkischen „Rassehygienikern“, separatistischen Reichsbürgern, AfD-Motzbacken oder „Wir-sind-das-Volk-Brüllern auf der anderen Seite. Sie werden ergänzt durch die – gerne zitierten – frustrierten Hausfrauen oder Familienväter mit Kindern, heimattreuen Öko-Kooperativen, außerdem naiven Realitätsverweigerern, gelangweilten Kiffern, Verschwörungstheoretikern jedweder Couleur und zwangsalternativen Akademikern, die tatsächlich allesamt das gleiche wollen: keine Maske tragen!

Stimmt, wer seine Maske so fallen lässt und in dieser Allianz gemeinsam für das „Freisein“ (von jeglicher Vernunft?) marschiert, zu dem passt tatsächlich auch keine Stoffmaske. Schön, dass das Oberverwaltungsgericht die Demo erlaubt hat und ihre Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigen konnten, was sie so draufhaben! Es war so, wie im Kindergarten, wenn die Erzieherin ruft „alle Vögelchen fliegen hoch!“ Und wenn ein paar rufen, wir stürmen den Reichstag, machen auch dabei welche mit.

Das alles war beeindruckend deutlich und eines ist sicher: die Demokratie und Corona werden das aushalten und beide werden es überleben! Einen schönen Sonntag wünscht

Ihr

Rainer Sander

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