ÜBERALL IN DEUTSCHLAND. Es ist Sonntagvormittag und wir haben die Wahl. Nicht wie sonst sonntags zwischen Ausschlafen und Gottesdienst – wobei ich oft beides nicht hinbekomme – auch gar nicht will – sondern zwischen vielen, vielen Parteien, die sich trauen uns zu regieren. Zumindest stehen sie auf dem Wahlzettel. Ich frage mich – nicht nur am Sonntagmorgen, sondern seit langem jeden Morgen aufs Neue, wer Spaß daran haben könnte Deutschland JETZT zu regieren.

  • Wir kommen mit den Folgen der Finanzkrise immer noch nicht vollständig klar, zahlen dafür immer noch den Preis negativer Zinsen und es gibt jede Menge offener Fragen
  • Die Folgen der Dieselkrise, die der Automobilindustrie zusetzt, sind noch nicht überwunden
  • Weder für die Corona-Krise noch für ihre kaum zu bezahlenden milliardenschweren Kosten in den öffentlichen Haushalten gibt es irgendeine gute Idee
  • Inzwischen haben wir auch festgestellt, dass der Klimawandel nicht verschwindet, wenn man einfach nicht mehr hinguckt, sondern dass er vielen Menschen ganz real die Lebensgrundlage vernichtet
  • Wir stellen fest, dass die Mieten aus dem Ruder laufen und einige Berufsgruppen nicht mehr in der Lage sind, in der Stadt zu leben, wo sie bisher alle hin wollten
  • Wir werden immer älter, nicht nur real, sondern im Durchschnitt und irgendwann auch immer pflegebedürftiger. Die Anzahl der Pflegekräfte reicht jetzt schon nicht mehr aus und wenn sich die Zahl der zu pflegenden Menschen nach Prognose der Bertelsmann-Stiftung bereits bis 2030 um noch einmal die Hälfte erhöht haben wird, dann wird das System längst zusammengebrochen sein
  • Gleichzeitig fehlen Fachkräfte in vielen Berufen. Das Handwerk stöhnt am lautesten und wenn Sie mal einen Wasserhahn repariert bekommen wollen, dann werden Sie schnell merken, dass dazu keiner mehr Lust hat
  • Unser Gesundheitssystem leistet immer mehr, die Kosten dafür steigen aber ebenfalls überproportional
  • Unsere Landwirtschaft stößt an die Grenzen
  • Die Flächenversiegelung raubt gute Böden und gleichzeitig möchten wir die Produktion für viele Dinge aus Asien zurückholen. Das geht nicht mehr in alten, vor 10, 20 oder 30 Jahren stillgelegten Fabriken
  • Schon jetzt können viele Kommunen keine neuen Baugebiete mehr ausweisen, weil wir nicht ewig Fläche verbrauchen können
  • Und wenn wir schon mal beim Thema sind: schon seit Jahren funktioniert das Rentensystem nur noch, weil erhebliche Summen aus der Steuerkasse zufließen. Und das wird ab jetzt (das ist sofort) dramatisch ansteigen oder die Rentenhöhe wird sinken

Das Morgen beginnt tatsächlich morgen

Also, gleichzeitig werden wir das Schienennetz und den öffentlichen Personennahverkehr ausbauen, bezahlbaren Wohnraum schaffen, jedes enge Tal hochwassersicher machen wollen, und auch sonst alles tun, um mit den inzwischen unabwendbaren Folgen des Klimawandels klarzukommen; außerdem auch noch alles, um ihn abzubremsen – Deutschlands zwei Prozent am CO2-Ausstoß hin oder her. Den Pflegekräften möchten wir eigentlich die Gehälter erhöhen, wissen aber, dass das nichts bringt, wenn das gleichzeitig in allen anderen Mangelberufen ebenfalls geschieht. Es wird an der Situation tatsächlich nichts ändern. Wir müssten außerdem dafür die Beiträge in die Pflegeversicherung erhöhen, die die meisten jetzt schon zu hoch finden. Wir dürften nicht irgendwann, sondern schon morgen feststellen, dass die Kosten der Pandemie nicht allein von den Ungeimpften getragen werden können, denn dann müsste das Problem bei einer hohen Quote ja tatsächlich weg sein. Wird es aber nicht. Einen echten Plan, auch für die Variante einer neuen Variante mit „Ätsch-Faktor“ habe ich von niemandem gehört. Wir brauchen mehr Energiequellen und möchten in einer gesunden Umwelt leben.

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All das kommt nicht irgendwann, sondern in der nächsten Legislaturperiode mit Wucht auf die Politik zu. Aber an einem Tag wie heute, möchten wir Wähler hören, dass uns das nicht mehr kostet, nicht mehr Arbeit macht und möglichst keine Veränderungen beschert. Und deshalb wollen wir heute diejenigen wählen, die das alles lösen können. Aber genau dafür ist niemand auf dieser Welt. Wir alle könnten ja Politiker sein, wenn wir es denn wollten. Oder? Da haben wir aber keine Lust drauf!

Wenn ich noch einmal so objektiv wie möglich auf den Wahlkampf der letzten Monate zurückblicke, dann habe ich tatsächlich keine Versprechen mehr gehört, keine Pläne und keine echten Vorschläge. Wir wählen heute diejenigen, die am besten erklären können, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist und wer die meisten Fehler gemacht hat. Also diejenigen, die mit dem Wissen von heute am eloquentesten erklären konnten, was man vor 10, 20 oder 30 Jahren hätte anders machen können, wenn man denn gewusst hätte, was alles auf uns zukommt. Und heute Abend ab 18:00 Uhr kommen dann diejenigen zusammen, die wenig Eigenes vorgetragen, aber alles Andere bisher nicht gewollt haben und dann gemeinsam Probleme lösen, die sie – je nach Standpunkt – groß oder klein geredet haben. Darauf freue ich mich schon jetzt!

Lass es andere tun!

Und dann folgt automatisch die Beantwortung der Frage, wer geht ehrlich mit uns um? Und wollen wir überhaupt, dass irgendjemand ehrlich mit uns umgeht? Immerhin bekommen die Parteien, die versprechen nichts zu tun, nichts zu ändern und für nichts wirklich eine Idee zu haben, in manchen Landesteilen bis zu 25 Prozent. Garantiert! Und auch sie sorgen nicht für eine höhere Wahlbeteiligung.

Wenn ich täglich diese Rückblicke gehört habe, diese vielen Sollte, Müsste und Hätte, dann kam mir mehr als einmal der Gedanke, dass niemand – wirklich niemand – so richtig darauf brennt, jetzt die Verantwortung zu übernehmen. Vielleicht haben die meisten Kandidaten im Wahlkampf unbewusst auf ihre innere Stimme gehört, die ständig gesagt hat: „lass es bitte andere machen!“

Ich gehe davon aus, dass wir Wähler gerade dafür sorgen werden, dass es auch niemand allein machen und allein die Verantwortung tragen muss, sondern dass die erste Verantwortung und das erste Tun darin bestehen wird, sich konstruktiv mit denjenigen an einen Tisch zu setzen, deren Ideen man bisher so total bescheuert fand und die sowieso an allem Unglück schuld sind. Ab heute Abend können wir uns zurücklehnen und weiter auf all diejenigen „da oben“ schimpfen und werden feststellen, dass sich – egal, wer da jetzt mit wem zusammenkommt, nichts Wesentliches ändern wird, weil sich die Probleme nicht ändern und – Potzblitz – neue dazukommen werden, von denen wir heute keinen blassen Schimmer haben.

Es wird im Leben nie darum gehen, keine Probleme zu haben. Es wird immer nur darum gehen, aus einer Situation das Beste zu machen. Und schon jetzt gilt für uns, dass wir bei der Wahl schon hätten wissen müssen, wer dazu in der Lage ist und wer nicht. Und wer genau das Sonntag, um 12:00 Uhr mittags noch nicht weiß, wird es auch nie erfahren. Aber auch wer gemeint hat, es zu wissen, wird es erst in den nächsten vier Jahren erfahren. Und das verrückte ist, dass unser aller Glück am Ende davon abhängt, wie ich gut jede*r einzelne in der Lage ist, Veränderungen zu akzeptieren und Realitäten anzuerkennen. Insofern freue ich mich auf jedes Wahlergebnis, weil nie alles schlecht und auch nie alles gut sein wird…

Ihr

Rainer Sander

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