FRIELENDORF. Es ist der Tag der Deutschen Einheit. Wir haben bis heute Nachmittag alles gehört und gesagt, was wir seit 30 Jahren am 3. Oktober und an jedem anderen Tag hören und sagen: Der Mauerfall war ein Glücksfall, Helmut Kohl hat es gut gemacht, alle anderen waren auch dabei, Helmut Kohl hat blühende Landschaften versprochen, aber an manchen Ecken blüht es trotzdem noch nicht (auch im Westen nicht) und „es ist noch ein langer, langer, langer Weg…“

Man müsse mehr Verständnis füreinander aufbringen, also überhaupt. Dass es auf beiden Seiten in vielen Ansichten sehr unversöhnliche Betrachtungsweisen gibt, ist der eigentliche Punkt. Das Problem fängt schon beim Tag der Deutschen Einheit an. Im Westen hat es ihn schon immer gegeben, wenn auch am 17. Juni, als Tag der Hoffnung, vor allem aber als Tag des Selbstbewusstseins: „Wir sind ein Volk!“ Das haben wir im Westen immer gewusst, im Osten durfte man es nicht einmal denken. Oder unter dem Vorzeichen des Sozialismus, aber dafür musste man schon mehr Glauben aufbringen als Gott und die gab es schließlich nur im Westen. „Wir sind das Volk“ hieß es zur Wende.

Der Punkt ist doch gerade der, dass die Sozialisationen so unendlich unterschiedlich waren. Eine ganze Generation hatte im Osten nichts anderes als einen Staat erlebt, der alles geregelt hat und auf den alle mehr oder weniger viel oder komplett sauer waren. Über den Staat zu schimpfen, gehörte in der DDR zum guten Ton, wenn auch augenzwinkernd oder wenn „man unter sich“ war. Und weil es alle gemacht haben, sind immer nur diejenigen aufgefallen, die sich dabei blöd angestellt oder zu lautstark geäußert haben.

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In Westen hatten wir einen Staat, in dem eine ganze Generation froh war nach Osten blicken zu können. Vom Industriemanager über den Politiker bis zum Hilfsarbeiter konnte man immer über den Stacheldraht blicken und wusste, da ist es schlechter! Egal was wir hier nicht hatten, die hatten weniger! Nicht allein darüber, aber immerhin auch auf diese Weise, hat sich das westdeutsche Selbstbewusstsein gerne ein wenig definiert.

Im Osten hingegen galt es als schick, West-Jeans zu tragen, Milka- und Lindt-Schokolade zu Weihnachten zu kauen und statt Kaffeemischungen aus dem Osten, die schon den Filter verklebten, echten Bohnenkaffee von Tchibo, Eduscho oder Jacobs zu trinken. Ein wenig hatte man sich an den Zustand gewöhnt, dass der Westen liefert! Und wenn es nur die Kaffeebohnen und das Fernsehprogramm waren.

Und irgendwann war diese gleichzeitig verhasste und wunderbare Grenze über Nacht verschwunden. Nahezu ohne Vorwarnung. Alle hatten theoretisch die gleiche Chance, alle waren frei und jeder durfte sagen, was er denkt. Wie aber bekommt man kollektives Bewusstsein in den Griff?

Der Gedanke im Osten war vielleicht, „Super, ich kann (oder muss) etwas tun, wenn es mir besser gehen soll als dem Durchschnitt, aber selbst dann, wenn ich nichts tue, wird mir der neue Staat mehr geben, als der alte.“ Dem Westen ging es schließlich schon immer besser als dem Osten. Das kommt von allein! Oder von Gott! Pustekuchen! Macht der Staat so nicht und Gott sagt immer: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott! Mist!

Aber geben wir’s hier im Westen doch auch mal zu. Erst kamen die Trabbis, die in der ganzen Nation Mitleid gegenüber ihren Fahrern erregt haben. Doch als die ersten BMW und Mercedes mit Ostkennzeichen über die ehemalige Grenze fuhren und wir wussten, dass nicht etwa Wessis am Steuer sitzen, von da war klar, „es gibt kein kollektives Land mehr, das uns wirtschaftlich unterlegen ist!“ Nein, es gibt tatsächlich auch da drüben im Osten Unternehmertypen, die plötzlich mehr Geld hatten als wir! Von dem Moment an neigte sich doch das Verständnis gen Null. Egal, wie schlecht es drüben aussah, die Bereitschaft, sich am Aufbau Ost zu beteiligen schwand mit jedem Mittelklassewagen, der die die ehemalige Grenze von Ost nach West passierte. Da waren die Armen, hier alle Reichen!

Aus Ost-Sicht kamen aber immer noch deutlich mehr Audi, BMW und Mercedes in umgekehrter Richtung über die Werra gefahren. Gleichzeitig fand die ganzen selbstverständlichen und kostenlosen Lieferungen schon innerhalb der Familie längst nicht mehr statt. Die Erwartungshaltung gegenüber dem Staat ist allerdings nicht über Nacht verschwunden oder weniger geworden. Der Staat liefert nur jetzt weniger, auch wenn wir uns so ganz allmählich dahin bewegen, dass der Staat tatsächlich für ALLES zuständig ist. Wir verlieren gerade sogar das Recht, krank werden zu dürfen. Man ist gegen den Staat, ganz egal, ob man die handelnden Personen nun wählen kann oder nicht. „Es ändert sich sowieso nichts!“ Ein toller Satz, in dem sich seit dem Zweiten Weltkrieg so ziemlich alles verändert hat – und das auf beiden Seiten der Mauer.

Im Westen ist man jetzt auch immer mehr gegen den Staat, obwohl Deutschland mit den weitaus meisten Kennzahlen vor allen anderen Staaten dieser Welt rangiert. Auch in Sachen Glücksgefühl haben wir gegenüber den Dänen aufgeschlossen. Und keiner, der da blökt, „Merkel muss weg“ oder „die Regierung muss weg“ oder was auch immer weg muss, hat mir je die Frage beantwortet, was denn die Alternative wäre! Die einzige Alternative nennt sich selbst so und die schafft es nicht einmal, die Politikverdrossenen an die Wahlurnen zurückzuholen. Würde ihr das gelingen, könnte sie Deutschland nämlich regieren.

Zumindest in Sachen Unzufriedenheit und Suche nach Schuldigen sind wir auf dem besten Weg zur Einheit und das ist ja immerhin schon etwas. Aber wenn wir uns – jeder für sich – fragen, was wir denn nun wirklich lieber hätten, wo es denn tatsächlich besser ist und was unsere eigene Sozialisation in den Köpfen verankert hat, dann sollten wir uns doch tatsächlich darin einig sein können, dass es eigentlich nichts gibt, was sich nicht überwinden ließe. Oder?

Außer natürlich, man ist ständig gegen etwas, dann fehlen nämlich die Kraft und der Blick, um etwas zu bewegen. Glück entsteht immer aus der Akzeptanz dessen, was ist und ist nie von Anderen abhängig, Enttäuschung entsteht immer aus der Differenz zwischen Erwartung und Realität. Und die Realität sieht eigentlich gar nicht so schlecht aus. An der Erwartung lässt sich genauso arbeiten, wie am Erfolg.

Ich wünsche noch einen schönen 3. Oktober!

Ihr

Rainer Sander

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